Aus medizinischer und ethischer Sicht sprechen gewichtige Argumente dafür, alle Patientinnen und Patienten gleichermaßen bei unvermeidlichen Triage-Entscheidungen zu berücksichtigen, die einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen. Sie bilden in der jeweiligen Klinik eine gemeinsame Gruppe, unter denen die Verantwortlichen bei entsprechender Ressourcenknappheit auswählen müssen, wer behandelt und wer nicht behandelt wird. Dass eine Patientin oder ein Patient früher aufgenommen wurde und bereits intensivmedizinisch behandelt wird, ist dem Zufall geschuldet und begründet aus ethischer Sicht keinen vorrangigen Anspruch auf eine Intensivbehandlung.
Die Beendigung einer laufenden lebenserhaltenden Intensivtherapie ist dabei kein größerer „medizinischer Tabubruch“ als der Verzicht auf eine lebensrettende Intensivtherapie in der Notaufnahme: In beiden Fällen wird auf eine gebotene medizinische Behandlung verzichtet, was außerhalb einer nicht behebbaren Ressourcenknappheit weder ethisch noch rechtlich akzeptabel wäre. Die Konsequenz ist in beiden Fällen für die Patientinnen und Patienten gleichermaßen tragisch: Sie können aufgrund der pandemiebedingten, nicht mehr kompensierbaren Ressourcenknappheit nicht lebensrettend behandelt werden. Der Unterschied zwischen Tun und Unterlassen ist hier ethisch nicht relevant, wie dies auch bei der Therapiebegrenzung aufgrund eines Patientenwunsches keinen Unterschied macht.
Erfolgsaussicht unterliegt großer Unsicherheit
Im Gegenteil: Weitere Argumente sprechen dafür, auch Patientinnen und Patienten mit bereits laufender Intensivbehandlung in Triage-Entscheidungen einzubeziehen. Zum einen lässt sich die Erfolgsaussicht, also die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit, in der Notaufnahme vor Beginn der Intensivtherapie nur mit sehr großer Unsicherheit feststellen. Für eine verlässliche Einschätzung der klinischen Erfolgsaussicht – und damit für die Anwendung dieses Priorisierungskriteriums – ist deshalb oft eine intensivmedizinischer Therapieversuch unerlässlich. Dieser würde durch ein Verbot der sogenannte Ex-post-Triage aber ausgeschlossen, was einen starken Anreiz bieten würde, Patientinnen und Patienten mit vermeintlich schlechter Prognose gar nicht erst auf die Intensivstation aufzunehmen.
Zum anderen würde ein Verbot der Ex-post-Triage de facto einer Priorisierung nach dem Prinzip des first-come-first-served entsprechen. Dies würde nicht nur zu mehr vermeidbaren Todesfällen führen, wie eine Simulation verschiedener Triage-Strategien der Universität Augsburg bestätigt, sondern auch die Tragik der Triage-Entscheidungen erhöhen: Schließlich würden auch Patientinnen und Patienten mit einer hohen Überlebenswahrscheinlichkeit nicht mehr behandelt werden können, wenn bereits alle Intensivbetten belegt sind.
Rechtssicherheit von herausragender Bedeutung für Ärzt:innen
Für Ärztinnen und Ärzte ist es deshalb von herausragender Bedeutung, eine entsprechende Rechtssicherheit zu bekommen, wenn sie bei unvermeidbaren Triage-Entscheidungen alle Patientinnen und Patienten gleichermaßen berücksichtigen, die einer Intensivtherapie bedürfen. Einige Juristinnen und Juristen halten bereits jetzt eine solche Ex-post-Triage für rechtlich zulässig, sodass die Rede von einem Tabubruch nur schwer nachvollziehbar ist. Hinzu kommt, dass die vor zwei Jahren von medizinischen Fachgesellschaften erarbeitete und breit abgestimmte Leitlinie auch eine Ex-post-Triage vorsieht, sodass dieses Vorgehen ärztlicherseits eine breite Unterstützung findet. Dies ist auch wenig überraschend, da Ärztinnen und Ärzte im nicht-pandemischen Alltag immer wieder lebenserhaltende Intensivbehandlungen beenden müssen, wenn diese von den betroffenen Patientinnen und Patienten nicht mehr gewünscht ist.
Die von den medizinischen Fachgesellschaften erarbeitete Leitlinie ist insofern anti-diskriminierend, als niemand von Vornherein von einer Intensivtherapie ausgeschlossen wird. Es ist allerdings denkbar, dass Patientinnen und Patienten mit einem hohen Alter, mit bestimmten (!) Begleiterkrankungen oder bestimmten (!) Behinderungen statistisch eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen schwerwiegenden COVID-19-Verlauf haben. Dies könnte damit ihre Wahrscheinlichkeit etwas erhöhen, bei einer gravierenden Ressourcenknappheit nicht mehr lebenserhaltend behandelt zu werden. Auf eine intensivmedizinische Behandlung würde dann aber nicht aufgrund des hohen Alters, der chronischen Erkrankung oder der Behinderung verzichtet, sondern – wie bei allen anderen Patientinnen und Patienten auch – aufgrund der sehr geringen kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit. Dieses Vorgehen sichert insofern eine Gleichbehandlung, als alle Patientinnen und Patienten mit einer sehr schlechten Überlebenschance unabhängig von Alter, Vorerkrankungen und Behinderung gleichermaßen für einen Therapieverzicht in Frage kämen.
Losverfahren mit höherer Sterblichkeit verbunden
Diese mögliche statistische Benachteiligung von Menschen mit hohem Alter, Vorerkrankungen oder Behinderungen ließe sich nur sicher vermeiden, wenn man auf ein anderes Zuteilungskriterium wie beispielsweise ein Losverfahren oder ein first-come-first-served ausweichen würde. Dies wäre aber, wie die bereits erwähnte Simulation zeigt, mit einer insgesamt höheren Sterblichkeit für alle Personengruppen verbunden. Es ist sogar denkbar, dass damit mögliche statistische Überlebensvorteile für Menschen mit hohem Alter, Vorerkrankungen oder Behinderungen konterkariert würden, sodass sich auch für diese Personengruppen im Ergebnis eine ungünstigere Ausgangssituation bei möglichen Triage-Entscheidungen ergeben könnte.
Letztlich müssen wir als Gesellschaft entscheiden, welches Verfahren bei einer pandemiebedingten Triage-Situation insgesamt am wenigsten schlecht ist, welches den verschiedenen, zum Teil konkurrierenden Anforderungen am ehesten gerecht wird. Die Tragik der Entscheidungen lässt sich aber durch kein Verteilungsschema vollständig eliminieren. Hier ist deshalb eine sehr behutsame, sachliche Abwägung der Argumente für und wider der verschiedenen Allokationsverfahren erforderlich. Insofern wäre es aus meiner Sicht besser gewesen, wenn der Bundesminister für Gesundheit seine Bedenken gegenüber dem in der „Formulierungshilfe“ vorgeschlagenen Vorgehen zunächst intern im Ministerium und dann auch mit relevanten gesellschaftlichen Gruppen wie beispielsweise den medizinischen Fachgesellschaften erörtert hätte, die sich seit zwei Jahren intensiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben.
Georg Marckmann ist Professor für Medizinethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.