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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Große Veranstaltungen können stattfinden

Wolfgang Albers ist Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus Berlin
Wolfgang Albers ist Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus Berlin Foto: privat

Es gibt keinen Grund, große Veranstaltungen weiter auszusetzen, meint Wolfgang Albers. Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus Berlin und Politiker der Linksfraktion warnt im Standpunkt vor Alarmismus als Form der Desinformation des mündigen Bürgers.

von Wolfgang Albers

veröffentlicht am 14.07.2021

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Covid-19 ist eine ernstzunehmende Erkrankung. Sie war besonders ernst zu nehmen, weil sie neu war, weil wir wenig wussten über ihren Verlauf, den Verursacher und seine potentiell auch tödliche Wirkung. Und weil wir keine Therapie kannten. Nur Trolle leugneten die Existenz dieses Virus. Bis zum 10.Juli wurden in Berlin 180.551 Menschen positiv auf das Corona-Virus getestet. 15.041 mussten bisher stationär behandelt werden. 3.564 Menschen sind verstorben. Ihr Altersmedian lag bei 83 Jahren. In der sogenannten „Dritten Welle“ verstarben zuletzt 360 Menschen. Deren Altersmedian lag bei 76 Jahren.

Dieser Verweis negiert mitnichten die möglichen verlorenen Lebensjahre jedes Einzelnen, er präzisiert nur nochmals die besondere Risikogruppe. In den Altersgruppen der unter 60-Jährigen gab es 146 Tote. Nimmt man die unter 70-Jährigen hinzu, waren es insgesamt 488. Kein Kind unter 14 Jahren ist in Berlin verstorben. Acht Jugendliche starben in der Altersgruppe von 15 bis 19 Jahren. Am Tag mit der bisher höchsten Betten-Auslastung durch Corona-Patienten, dem 9. April 2021, waren 796 der rund 22.000 Berliner Krankenhausbetten mit Covid-19-Patienten belegt. Und in den rund 1.260 Intensivbetten dieser Stadt lagen 23 Tage in Folge, vom 11. April bis zum 3. Mai, mehr als 300 (305 bis 334) Corona-Patienten gleichzeitig. 

Personal schon vor Corona überlastet

Auch wenn diese Zahlen nichts über Ausmaß und Leid der betroffenen Einzelschicksale aussagen und wenig über die tatsächliche psychische und physische Belastung des Personals in unseren Krankenhäusern in dieser Zeit, sie zeigen doch, es gab nie einen Grund, dieses Virus zu dämonisieren. Überlastet war das Personal in unseren Kliniken auch schon lange vor Corona und nicht nur auf den Intensivstationen. Unseren Beifall hätte es sich längst verdient. Eher peinlich, dass es eine Pandemie brauchte, bis das jemandem auffiel. Und noch peinlicher, dass es beim wohlfeilen Klatschen vom Balkon geblieben ist und die Beschäftigten auf eine bessere Bezahlung noch immer warten.

Das Virus scheint bei uns nun heimisch geworden zu sein. Corona wird uns so in endemischen Verläufen erhalten bleiben, mit allen zukünftigen Mutationen. „Zero-Covid“ ist eine Schimäre. Wir sollten uns von dieser Illusion verabschieden. Müßig die Diskussion, wichtiger die Debatte, wie wir die Instrumente schärfen, mit denen wir das Virus im Alltag beherrschbar machen. Müßig auch jede schwarze Pädagogik, deren stete Panikmache ermüdet. Eine aufgeklärte Zivilgesellschaft braucht keine irrationalen Ängste, um eine Pandemie zu besiegen.

Auch Alarmismus ist eine Form der Desinformation des mündigen Bürgers, indem er die Rationalität der öffentlichen Debatte beeinflusst und dem Irrationalen Raum schafft. Die ambitionierten eifernden Mahner sind nicht weniger anstrengend zu ertragen als die geifernden Leugner. „Covidioten “ tummeln sich augenscheinlich in allen Lagern. Noch zum Jahresbeginn war es die „englische“ Mutation, die heutige „Alpha-Variante“, vor deren apokalyptischer Ausbreitung uns emsige Endzeitpropheten auf allen Talkshow-Kanälen warnten. Besonders der 1. Augur im Staat prophezeite am 15. April bei „Maybrit Illner“ Tausenden von jungen Familienvätern ein Ende auf den Intensivstationen. Viele Kinder verlören derzeit ihre Eltern. Die, die jetzt auf den Intensivstationen behandelt würden, seien im Schnitt 47 bis 48 Jahre alt. „Die Hälfte von denen stirbt!“

Nicht in Panik verfallen wegen Varianten

Der Berliner Senat sah sich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch außerstande, konkret Auskunft darüber zu geben, welche Auswirkungen diese Mutation auf das Krankheitsgeschehen in den Berliner Kliniken tatsächlich hatte. Auf entsprechende parlamentarische Anfragen zum Anteil der Alpha-Variante bei den Patienten auf den hiesigen Intensivstationen, ihrem Alter, ihrer Liegedauer und nach der Zahl derer, die an dieser Variante verstorben sind, antwortete er Ende Mai, dazu lägen ihm aus den einzelnen Häusern keine Erkenntnisse vor. Was ihn dann aber, nebenbei bemerkt, nicht davon abhielt, trotz dieser nicht vorhandenen Erkenntnisse unter anderem mit genau diesen Argumenten seine aktualisierte Eindämmungsverordnung zu begründen.

Aktuell ist es also die „Delta-Variante“, die sich bis zum Herbst zum „perfekten Sturm“ auswachsen könne, „uns um unsere Erfolge“ im Kampf gegen die Pandemie bringe und nun vor allem die Kinder bedrohe. Andreas Gassen, der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, hat recht. Auch wenn sich nun diese Variante, die ehemals „indische“ Mutation des Virus, zur vorherrschenden Mutante entwickelt hat, es gibt keinerlei Grund, deshalb in Panik zu verfallen. Nachgewiesen ist, dass diese Variante, die auch keineswegs so neu ist, sondern seit Oktober 2020 grassiert, infektiöser ist als alle bisher bekannten Mutationen. Ob sie allerdings auch eine höhere Pathogenität besitzt, also real zu mehr und schwereren Krankheitsverläufen führt, ist nach bisheriger klinischer Erfahrung aus mehreren Monaten nicht belegt. Der kühne 1. Augur musste eben erst seine Behauptung revozieren, Kinder seien davon in einem deutlich höheren Anteil mit schwerem Verlauf betroffen. Die Studienlage gibt das so nicht her.

Keine Argumente gegen Großveranstaltungen

Fakt ist auch, dass die zweifache Impfung mit allen bekannten Impfstoffen vor schwerem Krankheitsverlauf auch bei dieser Variante schützt. Was lamentieren wir also? Warum impfen wir nicht? Diese Gesellschaft hat die Instrumente entwickelt, das Virus zu beherrschen. Nun sollten wir sie auch nutzen und ihnen vor allem vertrauen. Es gibt keinen Grund, die UEFA zu geißeln. Es gibt keinen Grund, große Veranstaltungen weiter auszusetzen. Wenn die Prämisse zutrifft, dass vollständig Geimpfte vor schwerem Verlauf geschützt und zudem auch nicht mehr ansteckend sind, dann gibt es, verflixt nochmal, auch keinen Grund mehr, warum die dann nicht zusammensitzen sollten, im Konzertsaal, im Stadion oder auch anderswo. Und säße da der Lauterbach’sche Super-Super-Spreader mittendrin, wem sollte der noch schaden? Ringsum wären dann alle geimpft.

Was braucht es die sinnentleerten Debatten über fehlende Impfbereitschaft und Impfverweigerer, die es gesellschaftlich zu ächten gelte? Wen verwundert deren Skepsis eigentlich angesichts der Politisierung  dieser Impf-Debatte? Geben wir das Impfen endlich zurück in die Arztpraxen, in das Vertrauensverhältnis Arzt-Patient, da gehört es hin. Das schafft notwendige Akzeptanz und erhöht die Quote. Impfpflicht? Wozu? Schafft die mehr Vertrauen? Den Geimpften steckt auch der trollig-trotzige Nichtgeimpfte nicht mehr an. Sich selber impfen, ist die einzig richtige Antwort des aufgeklärten Citoyen.

Dr. Wolfgang Albers (Die Linke) ist Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung im Abgeordnetenhaus Berlin und Mitglied im Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung. Von 1990 bis 2015 war Albers in Berlin als Oberarzt in der Allgemein- und Gefäßchirurgie tätig. Er wurde in Essen geboren und studierte Medizin in Marburg und Münster. Seit Oktober 2006 ist er Mitglied des Abgeordnetenhauses in Berlin.

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