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Standpunkte Medizintechnik-Industrie bald ein Geisterschiff?

Erhard Fichtner ist Vorstandsvorsitzender German Health Alliance und Inhaber der PROTEC GmbH & Co. KG. Alexander Frey ist Abteilungsleiter Qualitätsmanagement/Regulatory Affairs der PROTEC GmbH & Co. KG.
Erhard Fichtner ist Vorstandsvorsitzender German Health Alliance und Inhaber der PROTEC GmbH & Co. KG. Alexander Frey ist Abteilungsleiter Qualitätsmanagement/Regulatory Affairs der PROTEC GmbH & Co. KG. Foto: GHA/PROTEC

Obwohl die Medical Device Regulation bereits vor acht Monaten in Kraft getreten ist, sind noch nicht alle Rahmenbedingungen zur vollständigen Umsetzung auf Seiten der europäischen Gesetzgeber geschaffen worden, kritisieren Erhard Fichtner und Alexander Frey. Sie warnen vor harten Zeiten für die deutsche Medizintechnik-Branche.

von Erhard Fichtner und Alexander Frey

veröffentlicht am 27.01.2022

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Mit der Medical Device Regulation (MDR) trat im Mai 2021 eine völlig neue, europäische Gesetzgebung für Medizinprodukte in Kraft. Die Regularien unter dem Titel „Verordnung EU 2017/745 über Medizinprodukte“ definieren die Zulassungskriterien für Produkte, die Medizintechnik-Hersteller in den Markt bringen dürfen. Seit ihrer Einführung ist diese neue Regulierung ein umstrittenes Thema. Branchenverbände und Akteure des Marktes fordern deutliche Verbesserungen. Allem voran werden die verminderten Wettbewerbschancen für deutsche MedTec-Hersteller im internationalen Kontext aufgrund der MDR-Regularien kritisiert.

Hintergrund der Inkraftsetzung neuer Regulatorien war – neben dem Ziel einer europaweiten Vereinheitlichung der Gesetzgebung – das Bekanntwerden des PIP-Skandals, bei dem eine französische Firma zu Anfang der 2010er-Jahre Brustimplantate mit minderwertigem Industrie-Silikon gefüllt hatte. Mithilfe der neuen MDR-Verordnung sollte zunächst eine Rechtsgrundlage für alle EU-Mitgliedstaaten geschaffen werden. Die Intention war, sowohl die Patientensicherheit hinsichtlich der verwendeten Medizinprodukte zu steigern, als auch einen reibungslos funktionierenden Binnenmarkt für Medizinprodukte sicherzustellen.

Mittlerweile zeichnet sich jedoch ein anderes Szenario ab, welches die MedTec-Unternehmen der deutschen Branche stark beeinflusst und schwerwiegende Folgen nach sich ziehen könnte. Durch die enorm gestiegenen Anforderungen an Hersteller, Behörden und die in der Verordnung benannten Kontroll-Instanzen geht die Verfügbarkeit der auf dem europäischen Markt erhältlichen medizintechnischen Produkte stark zurück. Zahlreiche Hersteller von Medizingeräten gaben in einer aktuellen Studie des Bundesverbandes Medizintechnologie an, entweder einzelne Produkte oder ganze Produktlinien eingestellt zu haben. Dies betrifft insbesondere Nischenprodukte, die aufgrund geringer Stückzahlen nicht ausreichend Gewinn erzielen, um die höheren Kosten, ausgelöst durch die MDR-Regularien, zu decken. Gerade diese Produkte jedoch wären wichtig für die eine ausreichende Behandlung im Gesundheitswesen.

Hohen MDR-Anforderungen kollidieren mit Fachkräftemangel

Eine nähere Betrachtung der Fakten verdeutlicht, wie diese schwierige Situation entstehen konnte. Auf der einen Seite stellen enorm gestiegene Anforderungen die Hersteller, Überwachungsstellen sowie Behörden vor neue Herausforderungen. Insbesondere die Umsetzung der neuen MDR-Anforderungen bedeutet mehr Aufwand an Personal und Zeitkapazitäten bei den herstellenden Unternehmen.

Auf der anderen Seite führen ein Fachkräftemangel und der Kampf um qualifiziertes Personal in der Medizintechnik-Branche zu Problemen. Genau diese Fachleute werden nun benötigt, um Produkte zu entwickeln, zu produzieren und insbesondere zu zertifizieren.

Viele Unternehmen behelfen sich daher damit, Mitarbeiter aus anderen Bereichen wie der Entwicklung mit regulatorischen Aufgaben zu betrauen. Was zunächst als intelligenter Schachzug anmutet, führt langfristig gesehen, wenn neue Entwicklungsprojekte nicht weiterbetrieben werden, zu Rückschritten. Somit gerät die wichtige deutsche Innovationskraft dieser Branche ins Stocken. Um dem entgegenzuwirken, wäre es notwendig, zeitnah vermehrt Bildungsangebote für das administrative Gesundheitswesen zu schaffen und hier gezielt die dringend benötigten Nachwuchskräfte auszubilden. Einer der Vorreiter dafür ist das Johner Institut, solche Einrichtungen werden jedoch landesweit mehrfach benötigt.

Übergangslösungen dringend notwendig

Für Bestands- und Nischenprodukte, die von der neuen MDR stark betroffen sind, müssten andere Lösungen geschaffen werden. Durch diese Übergangslösungen könnten die Einstellung von Nischenprodukten oder Kleinserien, die im Gesundheitswesen dringend benötigt werden, vermieden werden.

Obwohl die Medical Device Regulation (MDR) bereits vor acht Monaten in Kraft getreten ist, sind noch nicht alle Rahmenbedingungen zur vollständigen Umsetzung auf Seiten der europäischen Gesetzgeber geschaffen worden. Hier ist allen voran die European Database on Medical Devices, kurz EUDAMED, zu nennen, welche noch nicht vollständig online verfügbar ist. Aktuell stehen lediglich drei der sechs vorgesehen Module der EUDAMED zur Verfügung. Dadurch sind essentielle Forderungen der MDR nicht vollständig umsetzbar, was bedingt, dass die Medizinproduktehersteller die Konformität zur MDR erst schrittweise aufbauen können.

Dass die Zeit tickt, macht der folgende Termin deutlich. Am 27. Mai 2024 enden die Übergangsbestimmungen der Medical Device Regulation (MDR). Mit diesem Tag verlieren auch die letzten, nach der nun abgelösten Medizintechnik-Richtlinie (MDD) ausgestellten Zertifikate, ihre Gültigkeit. Daraus resultierend können ab diesem Stichtag keine weiteren Medizinprodukte entsprechend der bisherigen Richtlinie MDD in Verkehr gebracht werden. Erschwert wird der gesamte Zertifizierungs-Prozess auch dadurch, dass von 50 staatlich autorisierten Prüf- und Bewertungsstellen aktuell lediglich 27 Stellen benannt sind, um nach den Vorgaben der Medical Device Regulation zu agieren (Stand: 14.01.2022). Daraus resultiert die Problematik, dass zu wenig autorisierte Stellen zur Verfügung stehen, um Prüfungen und Zertifizierungen durchführen. Dies zieht einen enormen Zertifizierungsstau nach sich.

Um zum Ende der Übergangsfrist einen massiven Einbruch verfügbarer Medizinprodukte zu verhindern, sind zeitnahe, effiziente Lösungen notwendig. Die Schaffung weiterer personeller Ressourcen bei den Zertifizierungs-Stellen und eine deutliche Prozessoptimierung zum Beispiel durch Digitalisierung sind dort dringend erforderlich, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden. Insgesamt gesehen ist für kleine und mittlere Unternehmen der deutschen MedTec-Branche die aktuelle Situation nur schwer zu überstehen. Es besteht die Gefahr, dass der so wichtige deutsche Mittelstand in der Medizintechnikbranche durch Betriebs-Schließungen oder Betriebs-Übernahmen stark ausgedünnt wird. Von enormer Tragweite ist auch der Wettbewerbsnachteil, der nun für deutsche Unternehmen gegenüber dem internationalen Markt entsteht. In dieser Konsequenz könnten einzelne Produkte und sogar ganze Produktlinien deutscher Hersteller vom Markt verschwinden.

German Health Alliance unterstützt mit Regulatory Ark

Unter dem Schirm der German Health Alliance (GHA) organisieren sich aktuell die deutschen Medizintechnikunternehmen, um sich gegenseitig zu unterstützen und Synergieeffekte zu nutzen. Eine beispielhafte Initiative ist der „Regulatory Ark“ Arbeitskreis der GHA, der sich mit Lösungen für die aktuelle MDR-Problematik beschäftigt. Erhardt Fichtner, Vorstandvorsitzender der German Health Alliance beschreibt dies so: „Als mittelständischer Unternehmer sehe ich die Problematik tagtäglich. Die MDR hat sich von dem ursprünglichen „qualitativen“ Gedanken weit entfernt. Die Straffung des Produktprogramms und Konzentration auf Kernmärkte sind für mich die einzige Möglichkeit, den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden. Durch die Schaffung des Arbeitskreises Regulatory Ark innerhalb der German Health Alliance wollen wir unser Expertenwissen allen zugänglich machen. Damit die Medizintechnik „Made in Germany“ weiterhin den hohen Stellenwert in der Welt behält den wir uns über Jahrzehnte erarbeitet haben.

Auch für das allgemeine Gesundheitswesen hat die Medical Device Regulation ihre Folgen. Die hohe organisatorische und finanzielle Mehrbelastung wird zukünftig direkt oder indirekt auf das allgemeine Gesundheitswesen umgelegt werden. Diese Tatsache, sowie der Versorgungsengpass aufgrund fehlender Medizinprodukte bis hin zu daraus resultierenden möglichen Todesfällen, sind wichtige Aspekte, die der europäische Gesetzgeber neu überdenken muss.

Fazit: Zur Abwendung von Versorgungsengpässen für wichtige Medizinprodukte, zahlreicher Betriebs-Schließungen in der Branche und somit Einbrüche im deutschen Mittelstand fordern die deutsche MedTec-Branche sowie die Wirtschaftsministerkonferenz Lösungen insbesondere für Nischen- und Bestandsprodukte sowie Unterstützungsmaßnahmen für KMU.

Erhard Fichtner ist Vorstandsvorsitzender German Health Alliance und Inhaber der PROTEC GmbH & Co. KG. Alexander Frey ist Abteilungsleiter Qualitätsmanagement/Regulatory Affairs der PROTEC GmbH & Co. KG.

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