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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Neustart für ein nachhaltiges Gesundheitswesen

Claudia Schmidtke, ehemalige CDU-Abgeordnete und Sprecherin Universitäres Herzzentrum Lübeck
Claudia Schmidtke, ehemalige CDU-Abgeordnete und Sprecherin Universitäres Herzzentrum Lübeck Foto: promo

Um massive Versorgungsengpässe zu verhindern, muss das heutige Krankheitswesen zu einem Gesundheitswesen umstrukturiert werden, fordern Claudia Schmidtke, Helmut Hildebrandt und Jürgen Graalmann. Nötig sei ein wettbewerbliches Verfahren mit regionaler Umsetzung. Finanziert werden könne der Umbau dann über Anleihen.

von Claudia Schmidtke

veröffentlicht am 28.08.2023

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Unser Gesundheitswesen ist weder finanziell, ökologisch noch sozial nachhaltig. Vergleichen wir das Verhältnis von Lebenserwartung zu Ausgaben in Industrieländern, hat Deutschland zusammen mit den USA die schlechtesten Ergebnisse. Jedes Jahr fließt mehr Geld in ein System, in dem so viele Kliniken vor dem Aus stehen, dass selbst der sozialdemokratische Gesundheitsminister von einem „kalten Strukturwandel“ spricht. Übersetzt heißt das: kein gerechter Zugang zu medizinisch notwendiger Versorgung. Und dieser Strukturwandel wird sich fortsetzen. Die Krankheits- und Pflegelast wird stark steigen, während immer mehr Fachkräfte fehlen.

Um massive Versorgungsengpässe zu verhindern, müssen wir schnell handeln und das heutige Krankheitswesen zu einem Gesundheitswesen umstrukturieren. Denn wenn wir die Krankheitslast verringern, dann sinkt nicht nur der Personal- und Finanzierungsbedarf, sondern auch der Ressourcenverbrauch. Schon lange haben wir das Wissen, Krankheiten zu erkennen, bevor sie entstehen. Wir nutzen es nur nicht. Immer häufiger und immer früher kommt es zu chronischen Erkrankungen – Stichwort Diabetes II bei Kindern.

War die Schulmedizin zu Beginn vor allem auf eine Senkung der Mortalität ausgerichtet wie bei der erfolgreichen Verringerung von Todesfällen nach Herzinfarkt, ermöglichte der medizinische Fortschritt eine Chronifizierung von Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder auch Krebs. Beides erhöhte den Behandlungsbedarf und das System richtete sich darauf aus. Ob Disease-Management-Programme oder quartalsweise Pauschalen für Folgerezepte – bezahlt wird das Begleiten und Verlängern von Krankheiten. Mehr Krankheiten ermöglichen mehr Leistungen und damit auch mehr Einkommen. Diese falschen Anreize müssen wir umkehren und stattdessen die aktive Unterstützung der Menschen hin zu mehr Gesundheit belohnen.

Emissionshandel für Gesundheitsschäden?

Weniger „im“ sondern mehr „außerhalb“ des Gesundheitssystems scheint die Wende zu beginnen. Die Entwicklung hin zu regional und ökologisch produzierter Ernährung, zur Vermeidung von Plastik, zu neuen Strukturen für Fußgänger und Fahrradfahrer sowie zur Vermeidung von Armut lässt hoffen, dass dadurch auch die Entstehung von Krankheiten positiv beeinflusst wird. Will man die Analogie zur Klimawende weiter formulieren, käme es darauf an, ein „Total Cost Accounting“ oder eine Art Emissionshandel für die gesundheitsschädlichen Auswirkungen in unserem Alltag zu entwickeln.

Doch auch „im“ Versorgungsgeschehen zeigt sich Bewegung. Kirchliche, kommunale und private Krankenhausträger engagieren sich vermehrt – teilweise auch notgedrungen – für regionale Netzwerkstrukturen. Sie zeigen Interesse, selbst ins Risiko zu gehen und mit den gegenwärtigen Mitteln auszukommen, wenn sie im Gegenzug mehr Freiheiten zur Gestaltung bekommen. Im südbadischen Kinzigtal, in Nordhessen und in anderen Regionen wird in Verbindung mit Hochschulen schon länger an neuen Lösungen gearbeitet, um mit personalisierter Prävention, risikoorientiertem Screening und einer kontextbezogenen Stärkung der Gesundheitskompetenz mehr Gesundheit zu schaffen. Der medizinische Fortschritt unterstützt diesen Trend durch fortlaufende Innovationen. So können heute zum Beispiel genetisch bedingte Krankheitsrisiken frühzeitig erkannt werden.

Nicht weniger, sondern mehr Marktwirtschaft

Noch rufen viele nach mehr Steuergeldern oder nach „Entökonomisierung“ und „Rekommunalisierung“ von Versorgung, als ob es reichen würde, mehr Geld in ein fehlgeleitetes System zu stecken oder den Betreiber bei gleichen Fehlanreizen zu wechseln. Statt den über 200 Reformen der letzten beiden Dekaden, die im System etwas neu regeln, ohne dass es sich wirklich verändert, brauchen wir ein ordnungspolitisches Gesamtkonzept für mehr Gesundheit. Auch wenn wir heute noch nicht genau wissen, welche Lösungen sich durchsetzen: Um mehr Gesundheit zur schaffen, sollten wir den Rahmen für ein wettbewerbliches Verfahren setzen, das die „Produktion von Gesundheit“ belohnt.

Diese Gesundheitswende muss bundes- und landespolitisch vorgedacht, aber regional umgesetzt werden. Denn Versorgung findet regional statt. Netzwerke vor Ort können mit den Krankenkassen die Transformation hin zu einer besseren Vorsorge und einem klügeren Management von bestehenden Erkrankungen organisieren und gleichzeitig der Gefahr von Versorgungsengpässen durch nicht ausreichendes Personal begegnen.

Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat Ende Mai einen wegweisenden Bericht zu internationalen Modellen der „Integrierten Versorgung“ veröffentlicht, die das Potenzial für eine länderübergreifende Übertragung haben. Für 13 Lösungen aus Europa, darunter auch eine aus Deutschland, wurden unter anderem die Effekte einer Kostenmitverantwortung (mit dem Shared-Savings-Ansatz) auf gewonnene und vermiedene Lebensjahre mit Krankheitseinschränkungen für Deutschland (und auch die EU-Länder) modelliert. Interessant, dass dabei mit 4,6 Prozent einzusparenden GKV-Kosten genau 14 Milliarden Euro errechnet werden – das heißt, das Zwei- bis Vierfache der Summe, die gerade kürzlich vom GKV-Spitzenverband als voraussichtliche Finanzlücke für 2024 berechnet worden ist.

Ohne Transformation droht Rationierung

Die medizinische Infrastruktur muss künftig mehr auf Durchlässigkeit und Netzwerkmedizin ausgerichtet sein. Aktuell wird mal wieder viel über eine Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich diskutiert – mit den gleichen Argumenten wie vor 25 Jahren. Dabei geht es dank des medizinischen Fortschritts und der Digitalisierung um etwas völlig anderes. Brauchte es mehr als 70 Jahre, um die Dialyse von der Uniklinik ans heimische Bett zu bringen, könnten wir heute viel schneller sein. So gibt es für immer mehr Krebspatienten präzise Medikamente, die eine Fahrt zur Chemotherapie oder Bestrahlung ersetzen können und gleichzeitig besser wirken. Viele Verfahren, wie die Fototherapie bei Hautkrankheiten, können zu Hause durchgeführt werden. Das spart nicht nur 30 Arztbesuche pro Therapie, sondern senkt auch den CO2-Abdruck.

Der notwendige Umbau sollte ähnlich dem Klimatransformationsfonds über Anleihen finanziert werden. Denn öffentliche Anleihen sind nicht zur Finanzierung von laufenden Ausgaben gedacht, sondern zum Investieren in nachhaltige Vermögenswerte für öffentliche Güter, wie eine zukunftsfähige medizinische Infrastruktur. Der Hinweis auf die Schuldengrenze ist hier fehl am Platz, er gilt für die Schuldenfinanzierung laufender Ausgaben. Stattdessen stünden einem durch Anleihen finanzierten Wandel hin zu einer nachhaltigen medizinischen Infrastruktur entsprechende Vermögenswerte und Einsparungen gegenüber.

Die Transformation hin zu einem nachhaltigen Gesundheitswesen erfordert Mut, aber sie lohnt sich. Mit einer ordnungspolitisch durchdachten Gesundheitswende und einer verlässlichen Transformationsfinanzierung wird sie möglich. Nötig ist sie allein deswegen, weil wir sonst zwangsläufig in eine Rationierung laufen, die sich schon heute an immer mehr Stellen offenbart – ob in Form unbesetzter Arztstellen auf dem Land oder bei den Pflegediensten oder anderen Berufsgruppen.

Prof. Dr. Claudia Schmidtke ist Sprecherin des Universitären Herzzentrums Lübeck (UHZL) des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Sie war von 2017 bis 2021 Mitglied des Bundestages, von 2019 bis 2021 Patientenbeauftragte der Bundesregierung – und leitet derzeit die AG Gesundheit und Pflege der Fachkommission Soziale Sicherung in der Programm- und Grundsatzkommission der CDU Deutschland.

Dr. Helmut Hildebrandt ist Gründer und Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG, einem Unternehmen für Management, Analytik und Forschung im Gesundheitswesen. Er war Abgeordneter der Hamburgischen Bürgerschaft für die Grünen, Co-Leiter der Gesundheitskommission der Heinrich-Böll-Stiftung und ist Publizist.

Jürgen Graalmann ist Gründer und Geschäftsführer der BrückenKöpfe GmbH. Er war von 2011 bis 2015 einer der beiden Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbandes und ist Geschäftsführer des Deutschen Pflegetags sowie Vorsitzender des Kuratoriums Weiße Liste der Bertelsmann-Stiftung.

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