Ausgehend vom sogenannten Body Mass Index gelten in Deutschland fast 60 Prozent der Erwachsenen als übergewichtig, fast jeder Vierte als adipös. Die Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Herz-Kreislauferkrankungen verursachen nicht nur millionenfaches Leid, sondern auch immense Kosten für unser Solidarsystem. Übergewicht ist ein vielschichtiges und gesamtgesellschaftliches Phänomen. 63 Milliarden Euro geben wir jährlich für die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten wie Adipositas, für Krankengeld und Frührenten aus. Weitere rund acht Milliarden Euro fließen pro Jahr zudem in die Kariesbehandlung.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Thema Ernährung – ganz konkret der Konsum von Zucker und Fett. Diese sind mitentscheidend für den Gesamtkaloriengehalt und die Energiedichte der aufgenommenen Nahrung. Beide Komponenten werden künstlich zugesetzt und lauern als Zucker- und Fettfallen in 80 Prozent aller Fertiglebensmittel. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einer adipogenen Umwelt, in der es immer schwieriger wird, sich gesund und ausgewogen zu ernähren. Zum einen sind zucker-, fett- und salzreiche Lebensmittel an jeder Ecke verfügbar und oft billiger als gesundes Essen. Zum anderen ist die derzeitige Lebensmittelkennzeichnung für viele Menschen nicht verständlich. Welcher Verbraucher weiß schon, dass sich Zucker hinter 70 verschiedenen Begriffen verbirgt!
Studien zeigen überdies, dass Konsumenten den Zuckergehalt von Produkten systematisch zu niedrig einschätzen. Unterschätzen Eltern den Zuckergehalt, etwa von Joghurts, so haben ihre Kinder nachweislich ein doppelt so hohes Risiko, übergewichtig zu werden. Ein hoher Zuckerkonsum steht auch in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung von Karies bei Kindern. Noch dazu werden zuckerhaltige und ungesunde Lebensmittel massiv beworben – auch bei Kindern.
Die individualistische Ansatz ist gescheitert
Angesichts dieser Faktenlage ist auch klar, dass jetzt die Lebensmittelindustrie stärker in die Pflicht genommen werden muss. Vereinbarungen mit der Industrie auf freiwilliger Basis zeigen jedenfalls keine Wirkung. Um das Problem zu bekämpfen, setzt die Politik bisher noch auf die Verantwortung des Einzelnen, nach dem Motto: Jeder ist seines Körpers Schmied. Durch Information und Aufklärung sollen die Betroffenen lernen, gesünder zu essen und sich mehr zu bewegen. Dabei ist längst klar, dass der bisherige individualistische Ansatz gescheitert ist.
Einen wichtiger Hebel sollte die von der Bundesregierung im Dezember 2018 verabschiedete Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten darstellen. Das Kernziel lautet, die Zahl der Übergewichtigen und Adipösen bis 2025 nachhaltig zu senken. So soll unter anderem der Anteil der übergewichtigen und adipösen Kinder im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung bis dahin deutlich reduziert werden. Aber diese Ziele werden nicht erreicht, das belegen auch die veröffentlichten Ergebnisse des Max-Rubner-Instituts (MRI) vom 1. April 2020 zur ersten Folgeuntersuchung des Produktmonitorings von Frühstückscerealien, Joghurts/gesüßte Quarkzubereitungen, Erfrischungsgetränken und Tiefkühlpizzen.
Trotz Reduktionsstrategie sinkt der Zuckergehalt in Limonaden kaum
Demnach konnte im Rahmen der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie der Zuckergehalt bei regulären Limonaden durchschnittlich von 9,08 Gramm Zucker pro 100 Milliliter bisher lediglich auf 8,92 Gramm gesenkt werden. Ähnlich sieht es bei Cola- und Cola-Mix-Getränken aus. Erforderlich ist eine Senkung um mehrere Gramm, nicht Milligramm. Als positives Gegenbeispiel kann hier aus Expertensicht Großbritannien angesehen werden. Dort wurde im Rahmen der Einführung einer Softdrinksteuer der durchschnittliche Zuckergehalt in Erfrischungsgetränken durch die Lebensmittelindustrie um etwa 34 Prozent auf 2,9 Gramm pro 100 Milliliter gesenkt.
Eine Reduktion der Kalorienlast ist insofern wichtig, als Kinder und Jugendliche diese Getränke weiterhin stark konsumieren: Im Mittel trinken Drei- bis 17-Jährige mehr als einen halben Liter zuckerhaltige Getränke pro Tag. Die geschätzte Menge liegt bei drei- bis zehnjährigen Mädchen bei 454 Milliliter pro Tag und bei elf- bis 17-jährigen Mädchen bei 569 Milliliter täglich.
Der Gesetzgeber muss handeln
Jungen trinken noch mehr Softdrinks: Drei- bis Zehnjährige 568 Milliliter und Elf- bis 17-Jährige 708 Milliliter täglich. Deutschland liegt beim Zuckerkonsum über Softdrinks europaweit auf Platz drei, wie Daten aus dem Euromonitor zeigen. Der Pro-Kopf-Konsum von Zucker in Softdrinks liegt bei 9,5 Kilogramm pro Jahr beziehungsweise 26 Gramm pro Tag. Das übertrifft sogar die Zufuhr mit Süßigkeiten (18 Gramm pro Tag beziehungsweise rund 6,5 Kilogramm pro Kopf und Jahr).
Vor diesem Hintergrund befürwortet die AOK eine Anpassung der Rahmenbedingungen, um einen stärkeren Einfluss auf die Gesundheit und Lebensqualität der Bürger auszuüben. Dringend erforderlich sind aus unserer Sicht folgende gesetzgeberischen Maßnahmen: 1) ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für zuckerreiche oder andere hochkalorische Lebensmittel, wenn das Produkt nicht dem Nährwertprofil der WHO entspricht; 2) die verbindliche Umsetzung der Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für die Kita- und Schulverpflegung, 3) die verpflichtende Einführung des Nutri-Scores auf EU-Ebene sowie 4) die Einführung einer Herstellerabgabe auf Softdrinks.
Dr. Kai Kolpatzik ist Abteilungsleiter Prävention beim AOK-Bundesverband. Unter diesem Link gelangen Sie zum 3. Deutschen Zuckerreduktionsgipfel Digital. Die Veranstaltung beginnt um 12 Uhr, der Link wird um 10 Uhr aktiviert.