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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Strategie und System als zentrale Herausforderungen

Günther Jonitz ist Ex-Präsident der Ärztekammer Berlin
Günther Jonitz ist Ex-Präsident der Ärztekammer Berlin Foto: privat

Die Entwicklung der modernen Medizin ist eine beispiellose Erfolgsstory, jedenfalls auf den ersten Blick: Viele einst tödliche Krankheiten können heute geheilt werden. Die Kehrseite der Medaille: Es wird zunehmend das gemacht, was bezahlt wird und nicht das, was ärztlich sinnvoll wäre. Wie also kann die Patientenversorgung verbessert werden?

von Günther Jonitz

veröffentlicht am 06.02.2023

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Viele Herausforderungen in der Gesundheitspolitik werden verständlich, wenn man sich die Entwicklung der modernen Medizin ansieht: Es ist eine beispiellose Erfolgsstory. Nicht nur früher tödliche Krankheiten wie Aids, Tuberkulose oder manche Krebserkrankungen sind behandel- und heilbar, auch Patienten mit chronischen Krankheiten wie Diabetes mellitus, Herz- undGefäßkrankheiten können dank der modernen Medizin ein – fast – normales Leben führen. Moderne Medizin befähigt in vielen Fällen Menschen zu einem selbstbestimmten Leben.

Mit dem Erfolg kam das Wachstum: mehr Krankenhäuser, mehr Medikamente, mehr Gesundheitsberufe, mehr Institutionen. Gleichzeitig steigen durch moderne Medizin und verlängerte Lebenszeiten auch die Kosten. Was tun?

In den 1970er Jahren begann die Politik mit einer Strategie der Kostendämpfung. Das Gesundheitswesen wurde in Misskredit gebracht („Kostenexplosion“) und mit finanziellen Zwängen versehen. Budgets und Vergütungssysteme bestimmen zunehmend, was gemacht werden kann und was nicht. Es ist eine Strategie der Dezimierung: weniger Krankenhäuser, weniger Krankenkassen, weniger Institutionen, weniger Kosten. Gleichzeitig wurden von der Politik „Markt“ und „Wettbewerb“ ausgegeben. Welche Ziele hat der Markt? Worum geht es im Wettbewerb? Der Kommerzialisierung der Patientenversorgung wurden Tür und Tor geöffnet. Die Folgen sind für alle sichtbar: Wir leben in Zeiten des Mangels. Es fehlt an Pflegenden, an Haus- und manchen Fachärzten, an Medikamenten. Die Versorgung ist durch diese Politik teurer und schlechter geworden. Die alte Gesundheitspolitik ist tot.

Ursachen der Fehlentwicklung

Wenn man die Ursachen dieser Fehlentwicklung erkennen möchte, lohnt es sich, die beiden Herausforderungen auf zwei übergeordneten Ebenen anzusehen, die politische Strategie und unser System der Versorgung: Mit der – erstens – negativ ausgerichteten Strategie der Dezimierung reagieren die Betroffenen mit Ausweich- und Abwehrstrategien. Es wird zunehmend das gemacht, was bezahlt wird und nicht das, was ärztlich sinnvoll wäre. Wer es nicht tut, riskiert den Bankrott seines Krankenhauses oder seiner Praxis.

Zweitens: Wir brauchen ein tatsächliches System. Unseres ist keines. Eine Kuh ist ein System. Die unterschiedlichen Organe einer Kuh arbeiten gedeihlich zur Gesamtfunktion zusammen. Unser „System“ ist nach dem Fließbandprinzip aufgebaut: Die Organe und Institutionen im Gesundheitswesen arbeiten im Sinne des Wettbewerbs nach- oder oft gegeneinander. Eine gemeinsame Verantwortung für das Ergebnis der Versorgung fehlt. Das Spiel heißt „Schwarzer Peter“. Die Medizin hat sich verändert, unsere Patientinnen und Patienten haben sich verändert, die Rahmenbedingungen der Versorgung haben sich verändert; die Grundprinzipien unseres „Systems“ sind seit Jahrzehnten dieselben. Das Fließbandprinzip hat sich überlebt.

Daneben ist unser System blind für Ergebnisse. Werden Diabetiker in Berlin besser versorgt oder in Hamburg? Wie geht es Patienten mit Rückenschmerzen in Sachsen-Anhalt im Vergleich zu Schleswig-Holstein? Wir wissen schlicht nicht, mit welchem Ergebnis das Geld der Versicherten und Steuerzahler eingesetzt wird.

Was tun?

Wir brauchen jetzt einen Strategiewechsel. Eine kluge politische Führung muss die Gesundheitspolitik aus dem dauerhaften Alarm- und Notfallmodus herausnehmen; eine Politik, die erklärt, woher die Probleme und Herausforderungen kommen und wie ein Masterplan aussehen könnte. Wir brauchen eine Strategie der Versorgungs-Optimierung. Die Probleme sind die gleichen, nur werden in dieser Debatte Lösungen präsentiert – auch solche, die zum Teil bereits vorhanden sind. Der Berliner Gesundheitspreis und manche andere kennen Projekte, die Versorgungsprobleme lösen. Auch im Innovationsfonds gibt es wegweisende Projekte, die in der Regel in der Öffentlichkeit aufgrund der vorherrschenden Anti-Stimmung eher zerlegt als konstruktiv diskutiert werden. Eine Strategie der Optimierung sorgt für richtigen Wettbewerb, nämlich um Lösungen, und beseitigt die Kultur des gegenseitigen Misstrauens. Die Frage, die ein Minister öffentlich stellen möge, lautet: Wie optimieren wir die Patientenversorgung bis zum Jahre 2035?

Zweitens: Wir brauchen ein funktionierendes System. Dieses beruht auf Zusammenarbeit der Akteure, auf Gesundheitszielen und kontinuierlichem Feedback aus Patientenperspektive. Patientenversorgung findet regional statt.

Für eine werte-orientierte Versorgung

Instrumente und Werkzeuge finden sich unter dem Begriff der werte-orientierten Versorgung („value-based health care“). Die Diskussion findet international statt, nur nicht in Deutschland. Die Welt ist voll von Lösungen für eine funktionierende regionale und überregionale Versorgung. Auch hier ist eine kluge politische Führung nötig. Die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung liegt bei den Ländern, die Steuerungsinstrumente liegen beim Bund. Das macht es schwer, aber es kann funktionieren.

Beim heiklen Thema Patientensicherheit ist eine solche positiv ausgerichtete, auf Zusammenarbeit und Lösungen basierende Politik erfolgreich umgesetzt. Ein System, das aus den funktionellen Ergebnissen der Versorgung aus Patientensicht lernt, sich optimiert und Verhältnisprävention betreibt, ist in Deutschland seit 1884 etabliert: Die Versorgung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.

Anfangen ist wichtig. Besser machen kann man immer noch.

Dr. Günther Jonitz war von 1999 bis 2021 Präsident der Ärztekammer Berlin. Er gehörte unter anderem zu den Begründern des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin, des BQS Instituts für Qualität & Patientensicherheit, des Berliner Herzinfarktregisters und des Aktionsbündnisses Patientensicherheit. Derzeit hat der 64-Jährige eine Professur für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement an der Medical School Berlin inne.

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