Kaum hatte das Bundesverfassungsgericht § 217 des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB) „Geschäftsmäßge Förderung der Selbsttötung“ – also das Verbot wiederholter begleiteter Suizidhilfe – am 26. Februar 2020 für nichtig erklärt, nahmen verschiedenste Gruppierungen, insbesondere Gegner von Selbstbestimmung am Lebensende, das Basteln von Gesetzesentwürfen auf. Alle wollen sie die durch „Karlsruhe“ wiederhergestellte Freiheit der Hilfe zum Suizid, wie sie seit 1871 in Deutschland ununterbrochen galt, erneut einschränken.
Das Bundesverfassungsgericht erklärte im Urteil, der Gesetzgeber dürfe sogar theoretisch vorhandene Gefahren gesetzlich abzuwehren versuchen, obschon keinerlei Forschung je einen Nachweis erbracht hätte, wonach behauptete Risiken tatsächlich bestehen. Allerdings, so ein Hinweis des Gerichts, dürfe dadurch die grundgesetzlich gewollte Freiheit zum Suizid, wie auch angebotene und in Anspruch genommene Hilfe, in ihrem Kerngehalt nicht unmöglich gemacht werden. Weil § 217 StGB eben diese intendierte Wirkung entfaltete, musste er scheitern. Suizidhilfe durch erfahrene Personen ließ er nicht zu; derweil er solche durch üblicherweise unerfahrene nahe Angehörige gestattete, so dass das Risiko des Scheiterns von Versuchen gravierend erhöht wurde.
Eingebrockt hatte der deutschen Politik die Schlappe vor den Verfassungshütern die Deutsche Stiftung Patientenschutz – ein „Werk“ des konservativ-katholischen Malteserordens unter der Ägide von Exponenten der deutschen Pharma- und Krankenhausindustrie – und dessen Verbündete: Von ihr stammte ein Entwurf, der in nahezu identischer Version, inklusive fehlerhafter Zeichensetzung, im Herbst 2015 den Weg in den Bundestag fand, dort zum nichtigen § 217 StGB mutierte, und durch Bundespräsident Joachim Gauck ausgerechnet am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, in Kraft gesetzt worden ist. Dies, obschon dem Staatsnotar im Schloss Bellevue die verfassungsrechtlichen Bedenken bestens bekannt waren: Neben den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages hatten diverse Rechtsexperten verfassungsrechtliche Bedenken geäußert.
Keinerlei Rechtstatsachenforschung
Weder während des Gesetzgebungsprozesses 2015 noch nach dem Karlsruher Urteil 2020 fand in Deutschland Rechtstatsachenforschung zu diesen Fragen statt. Schlagzeilentaugliche Behauptungen sind billiger: Erlaube man Suizidhilfe, führe dies zu „einem Dammbruch“; alte und vulnerable Menschen könnten von Angehörigen zu vorzeitigem Ableben gedrängt werden und ähnliches mehr. Anschauungsmaterial darüber, wie Sterbehilfe beispielsweise in den Niederlanden, in Belgien, in der Schweiz, in Kanada und andernorts freiheitlich funktioniert, wäre reichlich vorhanden: keine der hierzulande propagierten Befürchtungen hat sich dort verwirklicht.
Im Gegenteil: Die Beseitigung des Verbots, selbst zu bestimmen, wann und wie das eigene Leben zu Ende gehen soll, führte zu einem Ausbau der Palliativmedizin, und die Fälle von Suizidassistenz oder gar aktiver Sterbehilfe – also der in Deutschland sowie der Schweiz verbotenen „Tötung auf Verlangen“ – blieben in unteren einstelligen Prozentbereichen aller Sterbefälle dieser Länder. Auch die in Deutschland erschienenen Dokumentationen, beispielsweise über die Tätigkeit des Vereins „Sterbehilfe Deutschland“, wurden von der Politik ignoriert. Während der ganzen Zeit vor dem Inkrafttreten des § 217 StGB erfolgten in Deutschland einige Hundert Sterbefälle in Form begleiteter Suizide, doch wurde kein einziger Missbrauchsfall festgestellt.
Beispielhafte Schweiz
Die Schweizer Regierung hatte auf Druck ähnlich konservativer und religiöser Interessengruppen wie in Deutschland vor rund zehn Jahren den Versuch unternommen, eine sondergesetzliche Regelung anzudenken. Gleich wie in Deutschland zielte diese nebenbei darauf ab, die Freiheit der Bürger in Fragen des persönlichen Lebensendes einzuschränken. Sechs Wochen nachdem sich im Kanton Zürich bei der doppelten Volksabstimmung vom 15. Mai 2011 Mehrheiten von knapp 85 beziehungsweise über 78 Prozent zugunsten der Legalität von Suizidhilfe – auch für Ausländer – ergeben hatten, stellte die Bundesregierung ihre entsprechenden Bemühungen vollständig ein und kehrte zu ihrer ursprünglichen Haltung zurück: Mit einem Sondergesetz, welches in irgendwelcher Art Sterbehilfe reguliert, würden jene Organisationen, die Freitodhilfe anbieten, gleichzeitig ein staatliches Gütesiegel erhalten.
Begleitete, assistierte Suizide sind und bleiben Ausnahmefälle. Über 30 Jahre liberale Suizidhilfepraxis in der Schweiz belegen es. Bestehende Gesetze, wie Strafrecht, Heil- und Betäubungsmittelrecht, Arztrecht und andere genügen. Die Nichtexistenz von Missbräuchen bestätigt die Auffassung der Regierung: Ein begleiteter Suizid wird dann zu einer normalen Option, wenn Freiheit durch spezialgesetzliche Bestimmungen eingeschränkt wird.
Sandra Martino, Erste Vorsitzende des Vereins Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben (Sektion Deutschland) e.V.