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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Zwei Jahre DiGA, eine Zwischenbilanz

Daniel Kraft und Sven Jungmann
Daniel Kraft und Sven Jungmann Foto: privat

Seit gut zwei Jahren können Hersteller beantragen, ihre digitalen Gesundheitsanwendungen ins DiGA-Verzeichnis aufzunehmen. Im Standpunkt ziehen die Ärzte und Unternehmer Sven Jungmann und Daniel Kraft eine gemischte Bilanz: Der Fokus auf die Erstattungsfähigkeit bremse Innovationen und Investments.

von Sven Jungmann und Daniel Kraft

veröffentlicht am 03.05.2022

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Als Deutschland 2019 das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) verabschiedete, wurde es als Katalysator für Europas neue Führungsrolle in der Gesundheitsinnovation gefeiert. Einige behaupteten zu Beginn, dass man für die Zukunft von Digital Health nun nach Deutschland schauen müsse. Auch wenn viele Effekte des DVG erst nach langer Zeit spürbar werden, sei eine Zwischenbilanz gestattet.

Das Gesetz sollte Ärzt:innen und Patient:innen ermutigen, mehr digitale Anwendungen zu nutzen, indem es digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) in die Regelversorgung integriert. Dies sollte auch Unternehmen ermutigen, Apps für den deutschen Markt zu entwickeln.

Wenig Verschreibungen

Im Januar 2022 sind jedoch nur 28 Apps im DiGA-Verzeichnis gelistet. Die Verschreibungszahlen sind winzig (ca. 45.000) im Vergleich zu den jährlich über 440 Millionen bei Medikamenten und Hilfsmitteln. Man hört, dass DiGA-Verschreibungen stark zunehmen, zumindest unter jenen, die Vertriebsstrukturen aufbauen, wie man sie aus der Pharma-Industrie kennt. Der beste Marketing-Kanal sind übrigens Faxgeräte. 

Zugegeben: Auch für physische Produkte ist es schwierig, einen guten Marktzugang im Gesundheitswesen zu erlangen. Für DiGA ist es noch schwieriger: Im Gegensatz zu Medikamenten hängen Apps stärker von der Mitarbeit der Nutzer:innen ab – man muss eben nicht nur eine Pille schlucken. Auch Ärzt:innen müssen die neuen Langzeitdaten aus Apps erst in ihre Prozesse integrieren.

Viele Rückzieher

Zudem zogen viele ihre Anträge für das neue Erstattungssystem zurück oder wurden abgelehnt. Dies lag oft daran, dass Anforderungen für Studien nicht erfüllt wurden. Viele Ärzt:innen und Versicherer zögern, Apps ohne belegte positive Versorgungseffekte zu unterstützen. 

Es fehlt an Talenten mit medizinischem und regulatorischem Wissen, die gute Produkte entwickeln können. Und es mangelt an Wachstumskapital. Daran ändert die Kostenerstattung für DiGA nichts, selbst wenn Frankreich und Co. mit eigenen DVG aufwarten. 

Verhaltenes Interesse

Es ist unklar, wie lukrativ das DiGA-Erstattungssystem langfristig sein kann, da aktuelle Preise im Vergleich zu „Offline“-Angeboten oft als zu hoch angesehen werden. Die regulatorischen und wissenschaftlichen Anforderungen an Start-Ups sind wichtig, dürfen aber nicht dysproportional zum Nutzen und Risiko sein. Bereits jetzt berichten manche, dass sie die Arbeit an neuen Features vollständig eingestellt haben, um unter anderem Dokumentationspflichten nachzukommen.

Manche Telemedizin-Anbieter hinterfragen grundsätzlich DiGA als Geschäft: Am Ende brauche es in der Medizin die menschliche Interaktion, ob physisch oder digital. So entwickeln Anbieter „DiGA“ als kostenlosen Service, der in ein bezahltes telemedizinisches Angebot integriert wird, um dieses attraktiver, effektiver und günstiger zu gestalten.

Planwirtschaft?

Noch wichtiger ist ein tieferes Problem mit dem DVG-Ansatz, der einseitig auf „digitale Helfer“ für Patient:innen ausgerichtet ist und ziemlich konkret Kriterien vorgibt. Es gibt zwar immer ausgefeiltere Gesundheits-Apps, aber viele gehen kaum über simple Gesundheitsfragebögen hinaus und schneiden allgemeine Inhalte auf die Nutzer:innen zu. 

Die Zukunft liegt jedoch nicht allein in DiGA, sondern im Zusammenspiel von Sensoren, implantierbaren Geräten, Telemonitoring, künstlicher Intelligenz, Bioengineering und anderen Technologien, die von der Anreizstrategie des DVG unbeachtet bleiben. DiGA sind nur ein Teil einer modernen Versorgung: Statt mit planwirtschaftlichen Ansätzen eine Kategorie zu priorisieren, wäre ein holistischer Ansatz besser.

Abschreckung internationaler Investitionen

Das DVG birgt die Gefahr, dass Firmen ihre Produkte zu sehr auf den deutschen Markt zuschneiden – was internationale Investor:innen abschreckt. Europäer vergessen, dass ihre Gesundheitsmärkte zu klein, disjunkt und reguliert sind, als dass Start-ups eine Relevanz auf globaler Bühne erreichen könnten. 

Ein weltweit renommierter Investor sagte: „Ich investiere nur in „Double Digit“-Milliarden-Opportunitäten. Das Problem mit Europäer:innen ist, dass sie zu klein denken und sich auf einzelne Länder oder die EU beschränken. Aber das sind kleine Märkte, die Skalierung innerhalb dieser Märkte ist eine Herausforderung.“

Was ist die Lösung?

Unternehmer:innen und Investor:innen auf der Suche nach großen Opportunitäten werden kaum nach Deutschland schauen, denn Skalierbarkeit trumpft die Erstattungsfähigkeit eines Marktes. Anstatt sich auf das Ende des Innovationsprozesses zu konzentrieren, sollten Regierungen ihren Fokus stärker auf die Phase vor der Kommerzialisierung legen – wenn die Werkzeuge erfunden, finanziert und gebaut werden. 

Wir brauchen Ärzt:innen und Forscher:innen, die evidenzbasierte Medizin im digitalen Kontext beherrschen, Beamt:innen, die digitale Werkzeuge zu beurteilen wissen, Investor:innen mit der Fähigkeit, Erfindungen zu bewerten und Geschäftsleute, die wissenschaftliche und regulatorische Komplexität der Gesundheitssysteme sicher navigieren. Regierungen können Kompetenzbildungen beispielsweise in Regulatorik und Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen für Kliniker:innen, Innovator:innen und Behörden-Mitarbeiter:innen stärker fördern. 

Ebenso wären Fördermittel für Wirksamkeitsstudien zu neuen Technologien nützlich. Studien werden von Investoren nur selten finanziert, obwohl sie zentral für die Akzeptanz unter Ärzt:innen und Versicherungen sind. Finanziell unabhängige Forschung genießt zudem größeres Vertrauen. Und wir würden mehr Lehrstühle für evidenzbasierte digitale Versorgung sehen und somit auch eine kritische Masse an relevanten Kompetenzen aufbauen. 

Schließlich könnte der Staat auch Fördermittel einrichten, die der regulatorischen Compliance dienen, zum Beispiel zur Einrichtung eines Qualitätsmanagement-Systems. Denn auch das ist teuer und wird ungerne von Investoren finanziert.

Wertschöpfung für die ganze Welt

Das DVG hat wichtige Impulse zur Digitalisierung unseres Gesundheitswesens gesetzt. Sicher wäre es wünschenswert, wenn die EU das DVG angepasst auf europäische Ebene heben würde. Eine EU-weite Erstattung und Verzicht auf redundante, länderspezifische Validierung würden die Kosten-Nutzen-Ratio verbessern.

Aber es birgt die Gefahr einer Planwirtschaft, die sich nicht schnell genug an Entwicklungen anpasst. Und Europas Blick ist zu sehr nach innen gekehrt. Wir sollten nicht nur unsere Heimatmärkte mit Vorlieben für bestimmte Technologien prägen, sondern Unternehmer:innen stärken, die weltweit Mehrwerte schaffen wollen. Eine auf Kostenerstattung fokussierte Politik fördert Ersteres, nicht Letzteres. 

Dr. Sven Jungmann ist Arzt, Unternehmer und Chief Medical Officer bei FoundersLane. Er ist Mitglied im Beirat von zwei Healthcare-Startups. Dr. Daniel Kraft ist ein Silicon Valley basierter Arzt und Wissenschaftler, Erfinder, Unternehmer und Innovator.

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