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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Eine Krankenkasse, viele Wurzeln

Hans-Walter Schmuhl, Historiker an der Universität Bielefeld
Hans-Walter Schmuhl, Historiker an der Universität Bielefeld Foto: Universität Bielefeld

Solidarisch, sozial, nachhaltig: das ist das Motto, unter dem die DAK-Gesundheit in diesem Jahr ihr 250-jähriges Jubiläum begeht. In zweieinhalb Jahrhunderten hat sich die Krankenkasse immer wieder neu erfunden und Maßstäbe gesetzt. Ihr innovatives Konstrukt hat sich als zukunftsweisend herausgestellt, konstatiert der Historiker Hans-Walter Schmuhl.

von Hans-Walter Schmuhl

veröffentlicht am 05.07.2023

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Am 6. Juni 1773, also ziemlich genau vor 250 Jahren, trat in Breslau eine Versammlung von Kaufmannsgehilfen zusammen, um ein „Institut zum Besten nothleidender Handlungs-Diener“ zu gründen. Nachdem die Satzung ein umständliches Genehmigungsverfahren durchlaufen hatte, wurde sie von der Generalversammlung der Genossenschaftsmitglieder am 1. Mai 1774 angenommen und das Institut konnte seine Arbeit aufnehmen. 150 Jahre später, im Februar 1924, ging die „Kranken- und Sterbekasse des Handlungsgehilfen-Vereins zu Breslau“ in der erst zwei Jahre zuvor gegründeten „Krankenkasse des Gewerkschaftsbundes der Angestellten“ auf. Diese wiederum nahm, nach der Vereinigung mit zwei weiteren Kassen, 1930 den Namen „Deutsche Angestellten-Krankenkasse“ an – den sie drei Jahre später, im Zuge der „Gleichschaltung“ nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten – schon wieder ablegen musste.

Seit 1946 firmiert die Kasse durchgehend als DAK, seit 2012, nach der Fusion mit der BKKGesundheit, als DAK-Gesundheit. Schon diese knappen Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte lassen erkennen: Die heutige DAK-Gesundheit hat viele Wurzeln. Die Breslauer Kasse ist darunter nicht die wichtigste, aber die älteste. Ihre Gründung im Jahre 1773/74 gibt der DAK-Gesundheit die Gelegenheit, 2023/24 ihr 250jähriges Bestehen zu feiern.

Fragt man nach der geschichtlichen Bedeutung des „Instituts zum Besten nothleidender Handlungs-Diener“ zu Breslau, so erkennt man, dass damals etwas Neues entstand: Mitglieder einer am Rande der alten Ständegesellschaft entstehenden neuen Berufsgruppe – kaufmännische Angestellte, wie man heute sagen würde – schlossen sich zu einer freien, selbstverwalteten Assoziation jenseits der überkommenen Zünfte, Innungen und Stände zusammen, um sich in Form einer Versicherung als Solidargemeinschaft gegen Krankheitsrisiken abzusichern.

Kassenzwang, aber keine Zwangskassen

Daneben widmete sich das Institut – wie auch ähnliche Gründungen in der Folgezeit – der Arbeitsvermittlung, gewährte Arbeitslosenunterstützung, förderte die berufliche Bildung und zahlte Sterbegeld. Alle diese Aufgabenfelder wurden im Laufe der Zeit aufgegeben. Was blieb, war eine Krankenversicherung nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit auf der Grundlage eines genossenschaftlichen Zusammenschlusses.

Dieses innovative Konstrukt sollte sich als zukunftsweisend herausstellen. Sein Potenzial zeigte sich hundert Jahre später, in den 1880er Jahren, als die von Reichskanzler Otto v. Bismarck auf den Weg gebrachte Sozialversicherungsgesetzgebung die Grundlagen für den Aufbau des modernen Sozialstaats in Deutschland legte. Damals räumte der Gesetzgeber im Gesundheitswesen dem Versicherungsprinzip den Vorrang vor dem Versorgungsprinzip ein, er führte den Kassenzwang ein, entschied sich aber gegen Zwangskassen, ließ also die bis dahin gegründeten genossenschaftlichen Unternehmungen – zunächst als freie Hilfskassen, später als Ersatzkassen – bestehen, hielt auch am Prinzip der Selbstverwaltung fest und unterwarf diese lediglich staatlicher Aufsicht.

Die später in der DAK aufgehenden Krankenkassen, die von kaufmännischen Angestellten auf genossenschaftlicher Basis gegründet worden waren, wurden in das entstehende System sozialer Staatlichkeit integriert. Dieses bekam dadurch den Charakter eines hybriden Systems, das Selbsthilfe und staatliche Regulierung, Eigeninitiative und öffentliche Wohlfahrt in Form einer geregelten, staatlicher Kontrolle unterstehenden Konkurrenz immer wieder neu ausbalanciert. So läuft es bis heute: Zwar gerieten die Krankenkassen im Ersten Weltkrieg in finanzielle Schieflage, wurden aber, weil systemrelevant, vom Staat gestützt. In der Weimarer Republik wurden sie Teil des weiter ausgebauten Wohlfahrtsstaates, überstanden Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise.

Das dunkelste Kapitel 

Im „Dritten Reich“ drohten die Ersatzkassen, insbesondere auch die DAK, den Gleichschaltungsbestrebungen der Hitler-Diktatur zum Opfer zu fallen. Die DAK rettete sich, indem sie mit der Krankenkasse des völkisch-antisemitischen Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes fusionierte, ihre männlichen Versicherten an diese Kasse abgab und sich selbst als „Berufskrankenkasse der weiblichen Angestellten“ neu erfand. Die Kasse wurde nach dem „Führerprinzip“ reorganisiert, die Selbstverwaltung abgeschafft, der Betriebsrat aufgelöst. Als Folge der Fusion sickerte völkisches, rassistisches und antisemitisches Gedankengut tief in die Unternehmenskultur. Die Folge war, dass sich die beiden Kassen, aus denen nach 1945 die erneuerte DAK hervorging, an der Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft im „Dritten Reich“ aktiv beteiligten. Nichtarier wurden entlassen und konnten nicht Mitglied werden. Jüdische Ärzte und Ärztinnen durften nicht mehr behandeln. Es ist dies zweifellos das dunkelste Kapitel in der Geschichte der DAK.

Nach 1945 stellte die Schaffung einer Einheitsversicherung in Berlin und in der SBZ/DDR die Fortexistenz der Ersatzkassen auch in den Westzonen infrage. Nachdem aber diese Gefahr abgewendet, die unmittelbare Nachkriegsnot überwunden und die Währungsreform von 1948 bewältigt war, erlebte die DAK unter den Vorzeichen des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ eine Phase beschleunigter Entwicklung, die durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Ausweitung des Geschäftsbetriebs auf die neuen Bundesländer nochmals Schub bekam.

Das änderte sich, als mit dem 1. Januar 1996 die uneingeschränkte Kassenwahlfreiheit eingeführt wurde. Die DAK war auf einmal keine Angestelltenkasse mehr. Umgekehrt waren Arbeiter und Handwerker nicht mehr verpflichtet, sich bei ihrer regionalen AOK, IKK oder der Betriebskrankenkasse des Arbeitgebers zu versichern. Die Folge war ein sich verschärfender Kassenwettbewerb, in dem die DAK aufgrund mehrerer gravierender Wettbewerbsnachteile schwer zu kämpfen hatte. Einer davon war der vergleichsweise große bürokratische Apparat mit entsprechend hohen Verwaltungskosten.

Die hohen Beiträge, die die DAK zu erheben gezwungen war, führten dazu, dass zwischen 2000 und 2005 nicht weniger als 1,3 Millionen meist jüngere Versicherte die Kasse verließen und die Rücklagen bedenklich schmolzen. Ein gründlicher Umbau des Unternehmens wurde notwendig, der sich in zwei Phasen vollzog: von 2005 bis 2010, im Rahmen des Umstrukturierungsprogramms DAK2005plus, dann ab 2016 mit dem Programm #Orange2020. Es umfasst einen sozialverträglichen Personalabbau, einen grundlegenden Umbau der Organisationsstruktur hin zu spezialisierten Fachzentren und eine forcierte Modernisierung des IT-Bereichs. Inzwischen hat sich die Finanzlage konsolidiert, der Anstieg der Ausgaben je Versicherten konnte eingedämmt, der Abstand zum durchschnittlichen Zusatzbeitrag deutlich verringert werden. Bei den Versichertenzahlen zeichnet sich eine Trendumkehr ab, die Mitarbeiterzufriedenheit hat, nicht zuletzt dank einer großzügigen Regelung zum Homeoffice während der Coronakrise, sprunghaft zugenommen. So ist die Krise zum Motor der Reform geworden – die DAK-Gesundheit scheint für die Zukunft gut aufgestellt.

Hans-Walter Schmuhl ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld und freier Historiker. Zuletzt erschien seine Studie „Kur oder Verschickung“ über Licht- und Schattenseiten der Kinderkuren der DAK von 1951 bis in die 1990er Jahre.

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