Verlieren Mitarbeiter:innen ihre Jobs, ist das immer ein Schicksalsschlag: Wer zum Beispiel gerade einen Kredit abbezahlt, ist auf ein bestimmtes Einkommen angewiesen. Für die meisten Menschen, die von der aktuellen Entlassungswelle in US-amerikanischen Tech-Unternehmen betroffen sind, wird dieser Schock zum Glück aber sehr wahrscheinlich nur von kurzer Dauer sein. Denn auch, wenn Zahlen und Berichterstattung extrem wirken, ist der Bedarf an Entwickler:innen immer noch riesig.
Der Fachkräftemangel ist gekommen, um zu bleiben. Daran ändert es auch nichts, wenn Giganten wie Alphabet sechs Prozent ihrer Belegschaft entlassen. Diese sechs Prozent werden tendenziell spätestens in drei Monaten wieder eine neue Stelle gefunden haben. Schon jetzt zeigt sich etwa, dass US-Behörden bereits um die entsprechenden Fachkräfte buhlen.
Sieht man sich das Verhältnis von Einstellungen zu Entlassungen bei den US-Bigtechs genauer an, wird auch klar, dass in den vergangenen beiden Jahren deutlich mehr Stellen geschaffen wurden, als abgebaut: So ist Alphabet etwa von 2021 auf 2022 um knapp 34.000 Mitarbeitende gewachsen. Die aktuellen Entlassungen betreffen aber nur rund ein Drittel davon. Es bleiben also 22.000 Stellen, die es vor zwei Jahren noch gar nicht gab. Und das trotz Pandemie, Krieg und Wirtschaftskrise.
Günstiges Geld, neue Projekte
Die Gründe, warum gerade jetzt so viele Unternehmen gleichzeitig entlassen, liegen vor allem in der Skalierung bestehender und neuer Projekte und der Aufnahme von Risikokapital im vergangenen Jahr: die US-amerikanische Wirtschaft ist grundsätzlich risikofreudiger als die deutsche. Unternehmen gehen einzelne Projekte gerne nach dem „Trial-and-Error”-Prinzip an, probieren sich aus, machen Fehler und lernen daraus. Deshalb ist die Schwelle, Risikokapital aufzunehmen und dafür neue Mitarbeiter:innen einzustellen, vergleichsweise niedrig.
2022 war Geld billig und aus unternehmerischer Sicht war es daher sehr sinnvoll, Kapital in die Hand zu nehmen, um Entwicklung und Innovation voranzutreiben. Ein entscheidender Unterschied zu Deutschland, wo wir tendenziell Projekte erst angehen, wenn sie zu 100 Prozent einschätzbar scheinen. Das führt natürlich zu einer gewissen Sicherheit, aber: eine hundertprozentige Garantie existiert nicht und wer zu lange wartet, überlässt anderen das Feld.
Der Fachkräftemangel in Deutschland: gekommen, um zu bleiben
In Deutschland gibt es im Moment mehr als 137.000 offene Stellen für Entwickler:innen. Die Frage, ob die Entlassungen in den USA sich auf Deutschland ausweiten werden, lässt sich also klar mit „Nein” beantworten. Deutsche Unternehmen haben aufgrund der eher konservativen Einstellungspolitik viel weniger neue Stellen geschaffen als US-Unternehmen. Und wo niemand eingestellt wird, wird auch niemand so schnell entlassen.
Hier haben wir eher das gegenteilige Problem: Es wurde zu wenig eingestellt, IT-Mitarbeitende fehlen über alle Branchen hinweg. Das liegt vor allem daran, dass es schlicht zu wenige Fachkräfte gibt. 92 Prozent der deutschen Unternehmen sagen, dass das Angebot an IT-Fachkräften nicht ausreichend ist. Und trotzdem passiert nicht viel, um diese Situation zu ändern: HR-Abteilungen bieten den gleichen Mitarbeitenden immer mehr Geld, ein Kreislauf entsteht, in dem deutsche IT-Talente von einem Unternehmen ins nächste abgeworben werden.
Das Problem: Es kommen kaum Menschen nach, während der Bedarf aber mit der Digitalisierung immer weiter wächst. Hinzu kommt, dass deutsche Fachkräfte auch für ausländische Märkte interessant sind, oft also auch dorthin abgeworben werden. Deutschland hingegen hat es schwer, neue Mitarbeitende im europäischen Ausland zu finden, auch dort hat der Fachkräftemangel schon lange Einzug gehalten.
Der Blick müsste nach Afrika, Asien, Südamerika, sogar in die USA gehen, doch auch hier verpassen deutsche Unternehmen leider immer noch viele Chancen, indem sie zu lange warten und unrealistisch hohe Anforderungen an Bewerber:innen stellen. Deutsch ist beispielsweise häufig immer noch Einstellungsvoraussetzung.
Unbesetzte IT-Stellen sind ein Risiko für die Cybersicherheit
Daten sind das Gold unserer Zeit – das ist nicht nur eine Floskel. Weltweit wird sich das Volumen generierter Daten bis 2025 verglichen mit 2018 auf über 175 Zettabyte mehr als verfünffachen. Dies Zahl steht für enorme wirtschaftliche Potenziale, erhöht aber auch den Bedarf an IT in Unternehmen immer weiter. Denn mehr Daten, mehr Vernetzung und digitale Kommunikation bedeuten auch immer mehr Risiko für Attacken von Cyberakteuren, oder Datenverluste jeder Art. Das Cybersicherheitsrisiko ist für Unternehmen heute so hoch wie nie zuvor, gleichzeitig fehlt mit dezimierten IT-Abteilungen der Schutz an allen Ecken und Enden.
Deutsche Unternehmen, egal welcher Größe, müssen auch in spezialisierte Talente wie Sicherheitsfachkräfte investieren, um langfristig wettbewerbsfähig und sicher zu bleiben. Es reicht schon lange nicht mehr aus, ein oder zwei IT-Mitarbeitende zu haben, die sich um den gesamten Tech-Stack gebündelt kümmern. Teams werden dann schnell überlastet, brennen aus und schaffen es nicht, sich ausreichend auf einzelne Bereiche zu spezialisieren. Auf Dauer können kritische Aufgaben wie Cybersicherheit dadurch so stark vernachlässigt werden, dass der Fachkräftemangel zum direkten unternehmerischen Risiko wird.
Es ist also entscheidend, dass deutsche Unternehmen sich von den Entlassungen in den USA nicht verunsichern lassen, sondern den Moment als Chance begreifen, die eigenen Teams zu erweitern und dabei den Blick auf Talente zu verändern: Brauche ich wirklich jemanden, der perfekt Deutsch spricht, oder doch eher jemanden, der motiviert und in der Lage ist, sich langfristig auf die Anforderungen in meinem Unternehmen einzustellen? Denn es ist immer besser, Mitarbeitende zu haben, die 50 Prozent des Profils erfüllen und sich mit ihnen gemeinsam intern weiterzuentwickeln, als gar niemanden.
Sead Ahmetović ist CEO und Gründer von We Are Developers, einer Karriereplattform für Software-Entwickler:innen.