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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Urbane Verkehrswende: Mit Lastenrädern gegen den „Verkehrsinfarkt“

Jennifer Dungs, Head of Mobility bei EIT InnoEnergy
Jennifer Dungs, Head of Mobility bei EIT InnoEnergy Foto: promo

80 Prozent des städtischen Frachtvolumens könnte emissionsfrei per E-Lastenfahrrad ausgeliefert werden, schreiben Jennifer Dungs, Head of Mobility beim europäischen Fonds EIT InnoEnergy, und Beres Seelbach, Geschäftsführer des Lastenradherstellers Ono. Sie fordern mehr Radinfrastruktur und andere Förderprogramme.

von Jennifer Dungs

veröffentlicht am 24.08.2021

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Bereits 2018 prognostizierte die Münchner Stadtplanungsabteilung, dass auf den Straßen der bayrischen Metropole bis 2030 in der Arbeitswoche eine Dauer-Rush-Hour von 6 Uhr morgens bis 21 Uhr abends herrschen würde – sofern der Zuzug in die Landeshauptstadt auf konstantem Niveau bliebe und keine infrastrukturellen Gegenmaßnahmen eingeleitet würden. Ein solch umfassender „Gefäßverschluss“ steht uns auf ähnliche Weise in allen Großstädten bevor, nicht nur in Deutschland. Denn Prognosen sagen bis 2050 weltweit eine Verdreifachung der gefahrenen Kilometer in unseren Städten voraus. Mit allen Konsequenzen für das Klima und die Lebensqualität.

Will der Verkehrssektor laut Fahrplan der Klimagesetznovelle seinen Beitrag zur Reduktion der Treibhausgase leisten – nämlich bis 2030 eine Verringerung um gut 40 Prozent auf rund 85 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente ist eines gewiss: Für Trippelschritte fehlt die Zeit.

Auf dem Weg in die „15-Minuten-Stadt“ Paris zeigt, wie es geht

Was möglich ist, zeigt ein Blick über den Rhein. Denn in besonders ganzheitlicher Weise denkt Paris seinen Verkehr neu, und das Konzept der modernen, nachhaltigen Stadt gleich mit. Als Kernelement ihrer Wiederwahlkampagne rief Bürgermeisterin Anne Hidalgo im Februar 2020 den „Plan Vélo“ aus. In dessen Zuge werden 350 Millionen Euro investiert, um bis 2024 Radwege entlang jeder Straße der Seine-Metropole zu bauen. Dafür müssen 60.000 Parkplätze weichen. Das übergeordnete Ziel ist es, aus Paris eine „15-Minuten-Stadt“ zu machen.

Auch durch eine entsprechende Fokussierung auf Fußgänger- und Fahrradinfrastruktur werden dort autarke, lebenswerte Bezirke geschaffen, in denen alle Bedürfnisse des täglichen Lebens – vom Supermarkt über den Co-Working Space bis zum Theater – innerhalb eines viertelstündigen Spaziergangs oder per Fahrrad erreichbar sein sollen. Auch in anderen Großstädten wie Barcelona oder Amsterdam werden ähnliche Konzepte erprobt.

In Deutschland hingegen sucht man nach einem solch holistischen Ansatz bislang vergeblich. Die Frage muss erlaubt sein: warum eigentlich? In der Pandemie hat sich gezeigt, was in Sachen Verkehrspolitik möglich ist. Als wegen der Ansteckungsgefahr mit dem Virus Busse und Bahnen verwaisten, reagierten Städte auch in Deutschland schnell und bauten in ihre Radwege aus oder widmeten Straßenspuren einfach um. Berlin kündigte sogar an, bis 2030 Verbrenner komplett aus seiner Innenstadt zu verbannen. Nun muss sichergestellt werden, dass aus diesen Mosaiksteinen ein zukunftsfähiges Gesamtbild wird. Denn der Patient Stadt braucht im ureigensten Interesse seiner Bewohner eine Akuttherapie.

E-Lastenfahrräder als Akuttherapie für den städtischen Lieferverkehr 

Die gute Nachricht: Für einen neuralgischen Punkt, den städtischen Lieferverkehr, liegen wegweisende Konzepte nicht nur in der Schublade, sie werden sogar schon mit Erfolg praktisch umgesetzt. In Berlin und in Frankfurt beispielsweise arbeitet Onomotion mit den dortigen Verkehrsbetrieben in Pilotprojekten an der Wiederbelebung des Konzepts der „Cargotram“. Dabei werden standardisierte Frachtcontainer aus Depots am Stadtrand in die Straßenbahn verladen und zu Haltestellen in der Innenstadt, sogenannten Mikro-Hubs, transportiert. Dort übernehmen die speziell für die Logistik der letzten Meile konzipierten elektrischen Lastenfahrräder die Auslieferung bis zur Haustür der Empfänger.

Wie in einem jüngst veröffentlichten Whitepaper am Beispiel von Frankfurt dargelegt wurde, könnten so 80 Prozent des städtischen Frachtvolumens emissionsfrei ausgeliefert werden. Das entspricht nicht nur einer CO2-Einsparung von 64 Prozent, sondern rechnet sich auch kostenseitig mit einem Minus von 9,7 Prozent gegenüber der Auslieferung mit Transportern. Ein weiterer Riesenvorteil: Die flächendeckende Umsetzung einer solchen intermodalen Logistikkette bedarf kaum Prozessanpassungen, geschweige denn enormer Investitionen.

Auch haben große Logistikfirmen wie Hermes Deutschland, GLS oder DPD längst die Zeichen der Zeit erkannt und setzen mithilfe von mikromobilen Lösungen auf die Dekarbonisierung der letzten Meile. Seit Juli dieses Jahres beliefert Hermes 300.000 Berliner in sechs Innenstadtbezirken komplett emissionsfrei. So werden mehr als 2,5 Millionen Sendungen jährlich zugestellt und 220 Tonnen CO2 eingespart. Das erfolgreiche Projekt dient Hermes als Blaupause im Rahmen seines Gesamtkonzepts für eine nachhaltige City-Logistik und soll bald auf weitere Städte wie Leipzig, Erfurt und Dresden erweitert werden. Diese Beispiele zeigen: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.

Politischer Wille gefragt: Vorfahrt für Klimaschutz in der Stadtlogistik!

Und politischer Wille ist für das Gelingen der Verkehrswende in unseren Städten mehr gefragt denn je. Hierzu brauchen wir zunächst eine Neuordnung der Hierarchien auf den Straßen. Wie schon in Frankreich und England muss es künftig auch auf Deutschlands Straßen heißen: Vorfahrt für Fußgänger und Radfahrer. Das beginnt mit dem weiteren Ausbau der Radinfrastruktur mit ausreichend breiten Radwegen. Auch sollte der Relevanz von Lastenrädern im städtischen Lieferverkehr beispielsweise durch eigene Spuren Rechnung getragen werden.

Zudem muss geltendes Recht endlich konsequent umgesetzt werden. Denn die Straßenverkehrsordnung (StVO) verbietet bis auf wenige Ausnahmen das Parken von Lieferfahrzeugen in zweiter Reihe. Nur werden die massenhaften Regelverstöße häufig von den Ordnungsämtern toleriert. Dies bedeutet nicht nur eine Gefährdung der verletzlichsten Verkehrsteilnehmer, sondern auch einen unfairen und klimaschädlichen Wettbewerbsvorsprung für den verbrennungsmotorisierten Lieferverkehr. 

Dringenden Handlungsbedarf gibt es außerdem bei den bestehenden Förderprogrammen. Die aktuelle staatliche Förderung von bis zu 2500 Euro pro Lastenfahrrad gilt derzeit nur für den Barkauf. Und geht damit ganz überwiegend am Logistikmarkt vorbei, denn Logistikunternehmen setzen überwiegend auf Leasingmodelle. Diese unnötige Beschränkung ist umso unverständlicher, als dass die staatliche Förderprämie für Elektroautos Leasingmodelle miteinschließt.

Es gibt also eine Vielzahl von Hebeln, um der urbanen Verkehrswende auch schon kurzfristig Schwung zu verleihen. Gehen wir diese Transformation daher jetzt gemeinsam und entschlossen an. Damit es nicht in wenigen Jahren heißt: Operation gelungen, Patient tot.

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