Ende Januar hat das Bundesministerium für Inneres und Heimat (BMI) seinen Referentenentwurf zum sogenannten Onlinezugangsgesetz 2.0 („OZG 2.0“) veröffentlicht. Länder und Verbände begrüßen in ihren Stellungnahmen größtenteils das Anliegen des Entwurfes, Verwaltungsprozesse für Bürgerinnen und Bürger zu vereinfachen und zu beschleunigen. Die unterbreiteten Vorschläge gehen vielen jedoch nicht weit genug.
Die grundsätzliche Kritik findet auch darin ihren schlagwortartigen Ausdruck, dass einige Verbände statt eines bloßen „Onlinezugangsgesetzes“ ein umfassendes „Verwaltungsdigitalisierungsgesetz“ (VwDiG) fordern. So zum Beispiel in den Stellungnahmen des Bundesverbands der Deutschen Industrie (Seite drei) und der Deutschen Industrie- und Handelskammer (ab Seite eins) nachzulesen. Vonseiten der Wirtschaft gab es im vergangenen Herbst bereits ein gemeinsames Papier dazu.
Die Forderung nach einem umfassenden VwDiG impliziert aber – bewusst oder unbewusst – zugleich die verfassungspolitische Forderung nach einer Ausweitung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 91c Abs. 5 GG. Der ehrgeizige Zeitplan des BMI sieht vor, dass Bundestag und Bundesrat das Gesetz noch vor der Sommerpause beschließen. Wollen wir die Idee eines umfassenden VwDiG ernsthaft erwägen, braucht es also dringend auch eine verfassungspolitische Debatte.
Kritik am OZG-Grundansatz: Frontend ohne Backend?
Die Forderung nach einem umfassenden VwDiG greift eine Kritik am regulatorischen Grundansatz des OZG auf, die das Gesetz von Beginn begleitet. Der Fokus des OZG liegt bislang nämlich im Einklang mit der (hauptsächlichen) verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsgrundlage aus Art. 91c Abs. 5 GG in erster Linie auf der rechtlichen Ausgestaltung des Frontends. Eine umfassende, sämtliche Verwaltungsleistungen erfassende Regelung zur Abwicklung der Verwaltungsverfahren im Backend enthält das OZG nicht.
Doch wird man dem OZG-Gesetzgeber nicht gerecht, wenn man ihm unterstellt, er hätte die Bedeutung des Backends für die Verwaltungsdigitalisierung übersehen. Vielmehr lag der bundeseinheitlichen gesetzlichen Regelung des Frontends der Verwaltung die Vorstellung zugrunde, dass dadurch zugleich der Startschuss für die übrige Verwaltungsdigitalisierung von Bund, Ländern und – pars pro toto für die mittelbare Staatsverwaltung – die Kommunen fällt. Die Kehrseite der fehlenden bundeseinheitlichen gesetzlichen Vorgaben für das Backend war ein erheblicher verwaltungsorganisatorischer Spielraum für die primär von Bund und Ländern im Rahmen des IT-Planungsrates koordinierte OZG-Umsetzung.
Wie weitreichend ist der Art. 91c Abs. 5 GG?
Die sorgfältige verfassungsrechtliche Auslegung der in Art. 91c Abs. 5 GG verwendeten Formulierung des „übergreifende[n] informationstechnische[n] Zugang[s] zu Verwaltungsleistungen von Bund und Ländern“ sollte einer verfassungsrechtspolitischen Forderung nach Ausweitung der Kompetenz vorausgehen. Wo die konkrete Grenze liegt, ist verfassungsrechtlich allerdings schwierig zu ermitteln. Hinsichtlich der kursierenden Forderungen wird die Antwort im Ergebnis womöglich differenziert ausfallen. Hier ist das BMI gefordert, seine Auffassung klar zu kommunizieren.
Bereits auf Grundlage einer oberflächlichen Betrachtung lässt sich festhalten, dass Art. 91c Abs. 5 GG dem Bund in seiner jetzigen Fassung keine umfassende Verwaltungsdigitalisierungskompetenz einräumt. Deshalb ist mit Blick auf sämtliche unter dem Begriff des VwDiG zusammengefasste Teilforderungen einzeln zu prüfen, ob sie sich bei verständiger Würdigung noch als Regelung des übergreifenden informationstechnischen Zugangs im Sinne der aktuellen Formulierung verstehen lassen.
Dabei geht es zum Beispiel um die Forderung nach einer bundesgesetzlichen Regelungfür eine Verwaltungsebenen übergreifende Ende-zu-Ende-Digitalisierung von Verwaltungsverfahren. Auch die gesetzliche Verankerung des sogenannten „Einer für alle“-Prinzips müsste in dieser Hinsicht geprüft werden.
Tatsächlich war die Frage des gegenwärtig verfassungsrechtlich Machbaren auch ein zentraler Bestandteil der vom BMI Anfang März durchgeführten Fachgespräche und Anhörungen mit Vertretern anderer Ressorts, der Bundestagsfraktionen, der Länder und Verbände, wie der zuständige Abteilungsleiter des BMI, Ernst Bürger, im anschließenden Statement berichtete. Konkrete Vorschläge etwaiger Verfassungsänderungen sind bislang jedoch noch nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. Doch welche verfassungsrechtlichen Stellschrauben gibt es überhaupt?
Verfassungspolitische Stellschrauben?
Den Art. 91c Abs. 5 GG zu erweitern, ist zunächst naheliegend. Auch wenn die grundsätzliche Bereitschaft des Bundes und der bisher gleichsam mit einer Stimme sprechenden Länder für erweiterte Gesetzgebungskompetenzen im Grunde gegeben sein sollte, wäre bei ihrer konkreten Ausgestaltung Sorgfalt geboten. Gerade aus Sicht der Länder gibt es das Risiko, dass die „Büchse der Pandora“ einer nicht mehr aufhaltbaren, stetigen Zentralisierung des nach dem Grundgesetz an sich dezentralen Verwaltungsvollzugs geöffnet wird, wenn dem Bund mehr Kompetenzen eingeräumt werden.
Zusätzlich wäre es erwägenswert, die Finanzverfassung anzupassen. Unabhängig davon, ob der Gesetzgeber ein OZG 2.0 oder ein umfassenderes VwDiG erlässt, bleibt die praktische Verwaltungsdigitalisierung in erster Linie eine verwaltungsorganisatorische Aufgabe. Ihr Gelingen hängt maßgeblich von einer guten personellen und sachlichen Ausstattung der beteiligten Akteure ab.
Hier sind verschiedene, auch innovative Finanzierungsmodelle denkbar, deren vergabe- und zuwendungsrechtliche Implikationen die Strukturen der föderalen Arbeitsteilung ganz erheblich (und durchaus unterschiedlich) prägen können, weshalb auch hier Sorgfalt geboten ist.
Außerdem erscheint auch die verfassungsrechtliche Verankerung der digitalen Verwaltung als ebenenübergreifendes Staatsziel, Selbstverständnis und Leitbild (zum Beispiel in einem neuen Art. 20b GG) bedenkenswert. Die Verankerung ist politisch charmant, weil sie keine unmittelbaren Kosten verursacht. Rechtlich dient sie im Großen wie im Kleinen als Argumentationstopos und kann (auch verwaltungsintern) Argumentationslasten verschieben. Insbesondere gilt dies für Sachverhalte, die für den (verfassungsändernden) Gesetzgeber nicht konkret vorhersehbar und damit auch nicht regelbar sind. So kann eine solche Verankerung der digitalen Verwaltung künftig erhebliche rechtliche und kulturelle Änderungen nach sich ziehen.
Erneute Verfassungsänderung im Eiltempo
In der Praxis der OZG-Umsetzung erfreut sich das Credo „Einfach machen“ zunehmend großer Beliebtheit. Das positive Potenzial der dahinterstehenden Haltung liegt darin, dass Innovationskraft und Gestaltungsfreude rechtliche Bedenken überwiegen und handlungsleitend bleiben – was bereichernd ist. „Einfach machen“ ist allerdings keine angemessene Haltung für etwaige Änderungen der verfassungsrechtlichen Grundlagen des digitalen Staates.
Die in Betracht kommenden Varianten der Neuordnung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen haben das Potenzial, dem Föderalismus nachhaltig ein anderes Antlitz zu verleihen. Änderungsvorschläge sollten daher – im Grunde wie in ihrer konkreten Ausgestaltung – sowohl aus demokratischen als auch aus rechtlichen Gründen sorgfältig vorbereitet sowie ergebnisoffen und mit der gebotenen Ruhe diskutiert werden. Die Lehre aus dem Jahr 2017 mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit durchgeführten Gesetzgebungsverfahren zu Art. 91c Abs. 5 GG sollte unbedingt sein, dass etwaige Unklarheiten noch im Gesetzgebungsverfahren auszuräumen sind – notfalls im Vermittlungsausschuss.
Wenn, dann jetzt!
Vor diesem Hintergrund ist es dringend erforderlich, die politische Debatte um das OZG 2.0 beziehungsweise ein VwDiG verfassungsrechtlich zu fundieren. Das BMI sollte den in die Vorbereitung des Regierungsentwurfes eingebundenen Akteuren, rechtzeitig verfassungsrechtlich reinen Wein hinsichtlich der gegenwärtigen Grenzen der Gesetzgebungskompetenz des Bundes einschenken. Da fruchtbarer Diskurs über Fragen der Verfassungsgestaltung Zeit bedarf, sollte die Debatte möglichst zeitnah eröffnet werden.
Moritz Ahlers ist Rechtsanwalt aus Hamburg und promoviert an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Er ist schwerpunktmäßig im Verfassungs- und Vergaberecht tätig. Insbesondere berät er staatliche Stellen bei der rechtlichen Gestaltung und Verteidigung vergaberechtsfreier IT-Kooperationen zur OZG-Umsetzung.
David Rappenglück ist Volljurist und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit verfassungsrechtlichen Fragestellungen und deren europarechtlichen Bezügen. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und Sevilla war er unter anderem für den Deutschen Bundestag, die Europäische Kommission und eine Großkanzlei in Hamburg tätig.