Ich gebe es rundheraus zu: Ich lese keine E-Government-Strategien – zumindest keine deutschen. Meine Erfahrung zeigt, dass eine detaillierte Kenntnis solcher Papiere weder auf Diskussionsbühnen noch am Forschungsschreibtisch substanziell hilfreich ist. Ich habe auch schon lange den Überblick über die diversen Strategien verloren.
Zur Verdeutlichung eine Auswahl an eventuell relevanten Papieren:
- Nationale E-Government-Strategie (zuletzt 2015 fortgeschrieben)
- Regierungsprogramm „Digitale Verwaltung 2020” (aus 2014), Teil der Digitalen Agenda der Bundesregierung 2014-2017
- Digitalstrategie der Bundesregierung (2023)
- Datenstrategie der Bundesregierung (2021)
- diverse Ministerial Declarations on eGovernment der EU
- Auch manchmal angeführt werden u.a.:
- Nationale Geoinformations-Strategie (2015)
- High-Tech-Strategie (aktuell aus dem Jahr 2021)
- Strategie zur Stärkung der Digitalen Souveränität für die IT der Öffentlichen Verwaltung (2021)
- IT-Strategie Bund (zuletzt aktualisiert 2023)
- Strategie Dienstekonsolidierung 2018-2025 (2021)
Eigentlich hatte der IT-Planungsrat 2020 außerdem die Entwicklung einer föderalen Digitalisierungsstrategie beschlossen, was laut Bundesrechnungshof die zugehörige Abteilungsleiterrunde später allerdings auf Eis legte. Was wie zusammenhängt und welche Papiere eigentlich gerade gelten, ist vermutlich nicht nur mir unklar.
Ruhe in Frieden, Nationale E-Government-StrategieAls der IT-Planungsrat 2023 die Gültigkeit der Nationalen E-Government-Strategie (NEGS) offiziell aufhob, war meine erstaunte Reaktion daher: „Was, die Strategie gibt’s noch?“ Mit dieser Wahrnehmung war ich nicht alleine, wie der Bericht vom Workshop „What’s NEGS?“ auf dem Fachkongress des IT-Planungsrats 2019 in Lübeck nahelegt: „Von den ca. 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gab die deutliche Mehrheit an, die NEGS nicht zu kennen bzw. lediglich über ihr Vorhandensein, jedoch nicht über ihre Inhalte Kenntnis zu besitzen. Lediglich ein Teilnehmer hatte sich etwas intensiver mit der NEGS beschäftigt; als Grundlage für das eigene Verwaltungshandeln oder die Erarbeitung eigener Landesstrategien wurde sie jedoch von niemanden genutzt.“
Der Planungsrat verkündet in seinem Aufhebungsbeschluss zur NEGS, seine „strategische Ausrichtung“ von nun an durch die Setzung seiner „Schwerpunktthemen“ vorzunehmen. Dies ist einerseits eine schöne Anerkennung des strategischen Ansatzes des „Sich-Durchwurschtelns“ (verwaltungswissenschaftlicher Fachbegriff), stellt andererseits aber auch die Frage nach dem grundsätzlichen Nutzen derartiger Strategiepapiere im deutschen Regierungssystem.
Wozu E-Government-Strategien schreiben?
„Die Funktion der deutschen Strategie hingegen bleibt unklar“, urteilen die Autor:innen einer NEGZ-Kurzstudie zum Vergleich der dänischen und deutschen nationalen E-Gov-Strategien. Dabei kann ein Strategiepapier viele Zwecke erfüllen:
Nach dem Lehrbuch sind Strategien ein Planungs- und Steuerungsinstrument, das konkrete Handlungsoptionen, Maßnahmen, Verantwortlichkeiten und Ressourcenzuweisungen benennt. Diese Detaillierungen sind in deutschen staatlichen Strategien meist nur schwach ausgeprägt, am ehesten begegnet man Maßnahmenauflistungen (bevorzugt bereits laufender Projekte). Ein anschauliches Beispiel hierfür ist etwa die aktuelle Datenstrategie der Bundesregierung.
Wenn Strategiepapiere in den Details schwächeln, wird gerne die Orientierungsfunktion betont: Die genannten Visionen und Prinzipien sollen vor allem Orientierung bieten für die vielen staatlichen und nicht-staatlichen Akteure, die in dem Feld unterwegs sind. Beim Plotten ihrer eigenen Kurse sollen sie sich auf die übergreifende Ziele, Architekturleitlinien, Ordnungsrahmen zumindest mittelfristig verlassen können.
„Der Weg ist das Ziel“ mag ein weiterer Zweck sein: Die Erstellung einer Strategie bietet einen Gesprächsanlass für die wesentlichen Akteure. Vielleicht ist es also falsch, einen Strategieprozess an seinem finalen Papier zu messen, und die positiven Auswirkungen sind vorwiegend für die beteiligten Akteure in der täglichen Zusammenarbeit spürbar. Interessant ist aus diesem Blickwinkel dann aber, wie der Entstehungsprozess der Strategie genau aussieht und wer daran beteiligt ist. Strategiepapiere könnten auch ausgehandelte Kompromisse dokumentieren – ähnlich einem Koalitionsvertrag. Gerade im fragmentierten deutschen politischen System wäre dies eine sinnvolle Funktion.
Etwas zynisch, aber sicher nie falsch, ist die Schaufenster-Funktion. Also einfach sagen zu können: „Wir haben eine Strategie.“ Das vermittelt nach außen das beruhigende Gefühl, dass jemand einen Plan hat. Und nach innen, dass man genauso professionell ist, wie andere große Staats- und Unternehmenslenker:innen, die auch Strategiepapiere veröffentlichen.
In ihrer aktuellen Form liegen E-Gov-Strategien meiner Einschätzung nach tatsächlich etwas quer zum Verwaltungsbetrieb. Was soll eine Behörde mit so einer Strategie anfangen, wenn man nicht gerade Versatzstücke für ein Redemanuskript sucht?
Verpflichtet fühlt man sich zuvorderst den geltenden Gesetzen und den Anweisungen der Vorgesetzten. Da an diese Strategien meist weder finanzielle Anreize noch Durchsetzungsmechanismen geknüpft sind, verorten sie sich in der kruden Policy-Werkzeugkiste zwischen Zuckerbrot und Peitsche in der Kategorie der „Predigt“. Da beim Nischenthema Verwaltungsdigitalisierung auch bei Schlagzeilen wie „Regierung hält sich nicht an eigenes Strategiepapier“ der öffentliche Aufschrei überschaubar bleibt, ist die Bindungskraft gering.
Im akteursreichen deutschen E-Government lässt sich zwischen Bund, Ländern, Kommunen, Selbstverwaltungskörperschaften, Interessengruppen, IT-Dienstleistern et cetera konstatieren: Politik frisst Strategiepapier zum Frühstück. Bei jedem Gesetzgebungsverfahren werfen sich Gestaltungs- und Verteilungsfragen neu auf, ungeachtet von Strategiepapieren. Wie sehr beeindruckt das Wedeln mit einem Strategiedokument das Finanzministerium, wenn Haushaltskürzungen anstehen?
Entsprechend leidet die Orientierungsfunktion dieser Strategien nicht nur unter einem Mangel an konkreten Aussagen, sondern auch an Verlässlichkeit. Zwar bemängelt etwa der Bundesrechnungshof in seinem Bericht zur OZG-Umsetzung die Orientierungslosigkeit der Länder mangels föderaler IT-Strategie. Angesichts des Hin und Her bei Themen wie Servicekonten und Portalverbund würde ich jedem IT-Verantwortlichen davon abraten, hohe Investitionen auf Grundlage von Absichtserklärungen in Strategiedokumenten zu tätigen.
Die wolkige, oft von einem Sowohl-als-auch geprägte Sprache der Strategiepapiere verweist zudem auf die Frage der grundsätzlichen Strategiefähigkeit des deutschen Regierungssystems. Die Politikwissenschaft legt nahe, dass staatliche Strategien als ein Mechanismus aus zentralistischen, präsidialen Systemen zwar der Form, aber kaum der Funktion nach in das föderale und parlamentarische System Deutschlands übertragen werden können. In der deutschen E-Gov-Landschaft fehlen wesentliche Elemente der Strategiefähigkeit wie ein klares strategisches Zentrum und der Kompetenz, Maßnahmen auch wie geplant umzusetzen.
Länder, die beispielsweise E-Government-Strategien als wirkliches Steuerungsinstrument nutzen, betten diese integral in ihr Verwaltungshandeln ein. Haushaltsmittel werden erst freigegeben, wenn die Passung der geplanten Maßnahme zur Strategie geprüft wurde. Strategien legen zentrale Ordnungsentscheidungen nieder, etwa wann und wie private Akteure eingebunden werden. Messbare Ziele, ein Umsetzungs- und Wirkungsmonitoring und benannte Verantwortlichkeiten schaffen politische Rechenschaftspflicht. Als Erkenntnis lässt sich festhalten, dass Strategien nicht alleine dadurch wirken, dass man sie aufschreibt.
Der Trend, etwa der Digitalstrategie der Bundesregierung einen zivilgesellschaftlichen Monitoring-Beirat beizustellen, ist angesichts der überraschend positiven Zwischenevaluation 2016 zum Regierungsprogramm „Digitale Verwaltung 2020“ (weitere geplante Evaluationen 2018 und 2020 wurden scheinbar vergessen) löblich. Das Monitoring ist aber nur ein Versatzstück zum Erfolg einer Strategie.
Strategie braucht’s trotzdemKurzum: In der deutschen föderalen Verwaltungsdigitalisierung schmückt man sich gerne mit Strategiepapieren, die man nicht stringent umsetzen kann, und die daher richtigerweise niemand liest. Die Entscheidung des IT-Planungsrats zum Auslaufen der Nationalen E-Government Strategie war daher nur folgerichtig.
Leider bleibt der Bedarf an strategischen Richtungsentscheidungen dennoch bestehen: Wie sehen die Leitlinien einer föderalen IT-Architektur und -Standards aus, mit denen private und öffentliche Akteure rechnen können? Wie gestalten wir die Aufgabenteilung zwischen den Verwaltungsebenen und zwischen Staat und Markt? Wer finanziert was? Wer darf was wie entscheiden? Für ein reines Durchwurschteln ist die föderale Verwaltungsdigitalisierungsflotte zu träge.
Mein Verdacht ist allerdings: Wenn man diese Fragen im deutschen System nachhaltig und wirkungsvoll klären will, muss man ein Gesetz daraus machen. Sonst liest es wieder keiner.
Basanta Thapa forscht und kommuniziert als Geschäftsführer des Nationalen E-Government Kompetenzzentrums in Berlin, einem Fachnetzwerk und Denkfabrik zur Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Sein Forschungsschwerpunkt ist die datengesteuerte Verwaltung.
Bisher von Thapa in dieser Rubrik erschienen: „Blind durch die Verwaltungsdigitalisierung“, „Informationspolitik ölt die Umsetzungsmaschine“, „Vision gesucht: E-Government im Bundesstaat“, „Digitale Verwaltung sucht Zweck“, und „Im Netzwerkgewirr der Verwaltungsmodernisierung“