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Smart City

Standpunkte Infrastruktur-Großprojekte: Mit deutscher Gründlichkeit zum Misserfolg?

Thomas Gläßer, Direktor und Leiter Infrastruktur-Großprojekte bei Atreus
Thomas Gläßer, Direktor und Leiter Infrastruktur-Großprojekte bei Atreus Foto: Atreus

Kaum ein deutsches Großprojekt, das in den letzten Jahren nicht scheiterte: BER, Stuttgart 21 und bald wohl die Autobahnbrücke auf der BAB 45. Auch in der Verwaltung bewegt sich viel zu wenig – die Digitalisierung hängt, schreibt Thomas Gäßler von der Atreus GmbH. Ganzheitliches Projektverständnis, digitale End-to-End-Prozesse und der Faktor Mensch – die Lösung wäre so einfach! Oder nicht?

von Thomas Gläßer

veröffentlicht am 19.04.2022

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Wo sind die Fähigkeiten, mit denen wir einst zu einer großen Industrienation wuchsen? Sie scheinen vergessen, mindestens aber verloren – so zumindest mein Eindruck, wenn ich auf die zentralen Projekte unseres Landes der letzten Jahre schaue. Bei der Suche nach der Ursache wird schnell klar, dass die Antwort so leicht nicht zu finden ist.

Hohe Ingenieurskunst im engen regulatorischen Korsett

Nicht, dass uns die Ingenieure, hier als Synonym für alle Projektbeteiligten genannt, abhandengekommen wären. Aber haben Sie schon einmal versucht, den 110-Meter-Hürdenlauf mit gefesselten Beinen zu laufen? Ganz so sieht es aber aus, wenn ich auf unsere Landschaft aus Gesetzen und regulatorischen Vorgaben schaue. Datenschutz, Genehmigungsverfahren, Umweltverträglichkeitsprüfung, Anreizregulierung – Deutschland erstickt im Dickicht von Einschränkungen. Und so löblich sie auch sein mögen, die Rufe des Bundesumweltministers und seiner Kabinettskollegen nach Erleichterung und Beschleunigung – auf das „Machen“ kommt es an. Elon Musk zeigt in Grünheide, wie kurzfristig Projekterfolg möglich ist. Sein Rezept: Hohe Risikobereitschaft, Machen, und nicht erst auf die Genehmigungsbescheide warten. 

Projektgeschäft ist mehr als Technik

Natürlich geht es bei Infrastruktur-Großprojekten um eine Vielzahl planerischer und technischer Belange. Viel zu oft wird dabei aber vergessen, dass es um Menschen geht. Und darum, kulturelle Barrieren zwischen den Beteiligten bestenfalls gar nicht erst entstehen zu lassen. Ich spreche hier nicht von länderübergreifender Zusammenarbeit, aber wenn die Industrie mit der öffentlichen Hand spricht, wenn mehrere Industriepartner nicht über den gleichen Reifegrad in ihren Organisationen verfügen, dann wird hier bei aller technischer Genauigkeit der Grundstein für Misserfolge gelegt. 

So beschäftigt sich der „Leitfaden Großprojekte“ des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr in seiner aktuellen Version auf mehr als 130 Seiten mit Tipps und Hinweisen für die Durchführung solcher Projekte. Sein Credo: Plane gründlich und vermeide Änderungen! Was aber, wenn es dann doch plötzlich einen Flugzeugtyp gibt, der Änderungen an der Flughafenkonzeption erfordert? Sollten wir ihn einfach ignorieren?

Was aber noch bezeichnender ist: selbiger Leitfaden widmet lediglich eineinhalb Spalten der Thematik „partnerschaftlicher Zusammenarbeit“. Dabei ist dieser Bereich der Schlüsselfaktor! Wenn die beteiligten Menschen transparent miteinander sprechen, wenn sie Risiken managen dürfen und sie nicht verhindern müssen, wenn es eine Fehlerkultur gibt – dann sind auch Probleme beherrschbar und müssen nicht jahrelang unter den Tisch gekehrt werden. Und wenn einmal Spezialisten oder Generalisten im Projekt-Setup fehlen, ist Management auf Zeit das Mittel der Wahl. 

Smart City erfordert digitale Prozesse und Beteiligte

Auch so eines dieser Großprojekte sind Smart Cities: die Verbindung urbaner Räume mit Technologie und Infrastruktur, um durch Effizienzsteigerung klimaschonendere und lebenswertere Städte zu schaffen. Grundlage für so entstehende Produkte sind Daten und Prozesse. Nicht zu vergessen die Menschen, die damit umgehen können und wollen – und dies auch dürfen.

Solange wir es aber heute schon als Erfolg zelebrieren, wenn Bürger in ihrer Kommune digital einen Termin im Straßenverkehrsamt buchen können, solange so manches Stadtoberhaupt Digitalisierung damit gleichsetzt, ein Smartphone zu nutzen, solange rechtliche Grundlage für Digitalisierung ebenso fehlen wie Governance oder eine Standardisierung von Prozessen entlang von Best-Practice-Beispielen, wird es mit „intelligenten Städten“ schwierig. Und am Ende wird die Rechnung ohne den Wirt, in diesem Fall den Bürger gemacht. Die Prozesse werden oftmals so modelliert, dass sie der Verwaltung das Leben erleichtern, nicht aber den Bürgern. Bürgerwerften, in denen die zusammenarbeiten, die großes Interesse daran haben, ihre Stadt zukunftsorientierter zu gestalten und Verwaltungsmitarbeiter, die nicht in den Denkschemata historischer Amtsstuben beheimatet sind, sind ein Anfang für den Erfolg.

Digitaler Wandel als ganzheitliche Herausforderung

Es reicht nicht aus, einen Teil eines Unternehmens oder einer Verwaltung digital zu machen – es braucht eine digitale Transformation, die alle Abteilungen und Ämter, alle Mitarbeiter umfasst – beinahe eine agile Revolution. Wir müssen weg von sequentiellem, hin zu iterativem Vorgehen; wir brauchen Kollaboration statt Hierarchie; Zusammenarbeit in fehlertoleranten Modellen, nicht in solchen, die Fehlererkennung erst zu spät zulassen. Ansätze, die für Industrie und Verwaltung gleichermaßen gelten. Und immer im Mittelpunkt, die Kundenorientierung. Erst wenn alle Beteiligten übergreifend den Sinn und Nutzen der Digitalisierung verstehen, werden wir ein Verständnis für smarte Geschäftsmodelle entwickeln. Alles andere ist nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.

Keep it simple

Wie finden wir also heraus aus diesem Dilemma? Fünf Forderungen, die sich an Politik und Verwaltung gleichermaßen richten wie an die Industrie:

  • Entschlacken wir mutig den Gesetzesapparat, reduzieren Beschränkungen und Vorgaben!
  • Qualifizieren wir die Beteiligten für die digitale Welt, top-down. In den Unternehmens- und Verwaltungsspitzen fängt es an und reicht bis in die kleinsten Einheiten!
  • Stellen wir den Menschen in den Mittelpunkt von Projekten, nicht die Technik!
  • Vereinfachen wir unseren Alltag! Warum nehmen wir keine Anleihe in der Automobilindustrie, wo Baukastenfertigung das Schlagwort ist? Wenn wir nicht jede Brücke neu konstruieren, sondern 20 verschiedene Typen homologisiert haben, wie viel Zeit könnten wir in der Genehmigung sparen.
  • Akzeptieren wir Kompetenz-Lücken in den eigenen Organisationen und reservieren vorausschauend Budgets für den punktuellen Einsatz hochspezialisierter Experten auf Zeit.

Der Betriebswirt (VWA) Thomas Gläßer ist Direktor und Leiter Infrastruktur-Großprojekte der Atreus GmbH, einem Anbieter von Interim-Management in Deutschland. Er ist seit mehr als 25 Jahren in geschäftsführenden Positionen in der deutschen Industrie und dem Mittelstand tätig und war zuletzt in ein Projekt rund um die Infrastruktur für die deutsche Energiewende beratend involviert.

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