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Smart City

Standpunkte Kulturelle Sammlungen als digitales Spiegelbild der Stadt

Lambert Heller leitet das Open Science Lab in Hannover
Lambert Heller leitet das Open Science Lab in Hannover Foto: C Bierwagen

Was bringt es einer Stadt, wenn das lokale Museum 100.000 Insekten digitalisiert? Sehr viel, meint Lambert Heller, der am Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften (TIB) das Open Science Lab leitet. Er plädiert für digitalisierte Kultursammlungen und glaubt, dass Museen zu digitalen Wunderkammern für Städte werden könnten.

von Lambert Heller

veröffentlicht am 06.06.2023

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Die Sammlungen der Galerien, Bibliotheken, Archive, Gedenkstätten und Museen sind für alle da. Solange sie nicht von Tourist:innen als Selfie-Kulisse verwendet, von Schulklassen gelangweilt übersehen, von Promovierenden der Kunstgeschichte gründlich missverstanden, von Rentner:innen auswendig gelernt, oder ihre Glasvitrinen von NGOs mit Kartoffelpüree beworfen werden, sind sie nur das Geräusch, das ein umfallender Baum macht, wenn niemand in der Nähe ist. Wir alle wissen das.

Und mittlerweile wissen wir auch: das Online-Gehen der Digitalisate von Ausstellungsobjekten ist der ultimative Lackmus-Test ihrer Bestimmung, für jedermann da zu sein. Denn einerseits: Wie verfügbar hätte ein Ausstellungsobjekt überhaupt je sein können, bevor man es in 3D, in höchster Auflösung, digitalisiert hat, und es kostenlos, millionenfach kopierbar, via Google oder TikTok auffindbar, ins Netz gestellt hat? Andererseits: verlieren die Objekte auf diese Weise nicht ihren Ort, ihren Kontext? Und werden die sammelnden, mühevoll sortierenden, beschützenden Fachleute an den Kultureinrichtungen, ohne die sie nie gewesen wären (und damit auch: nie sichtbar gewesen wären), damit nicht null und nichtig gemacht, unsichtbar und virtuell überflüssig?

Digitale Insekten und Saurier

Die Museen, Archive und Bibliotheken selbst haben darauf größtenteils längst ihre Antwort gefunden. Die Sache ist für sie abgehakt, ohne online geht es nicht mehr. Trotzdem, zunächst einmal ist festzustellen, dass auch heute, viele Jahre nach der Popularisierung des Netzes, immer noch nur die Spitze des Eisbergs aller gesammelten Objekte online vollständig sichtbar gemacht worden sind. Und jenseits dieser rein quantitativen Beschränktheit: Die konkrete Ausgestaltung des neuen Aggregatzustands der Sammlungen, des Online-Seins, unterliegt einer erheblichen Dynamik. Sie muss, anscheinend, erlernt, missverstanden, bezweifelt und aufs Neue erlernt werden.

Genügt es, den T-Rex im Sauriersaal des Naturkundemuseums Berlins bei Google Arts and Culture ausstellen zu lassen? Wem gehört überhaupt das Digitalisat – dem Google-Mutterkonzern Alphabet? Und übrigens, wem gehören die physischen Knochen? (Eine Frage, die sich schwerer ignorieren lässt, nachdem diese digitalisiert worden sind.) Ist es nicht wichtiger, 100.000 Insekten zu digitalisieren, sie so detailliert zu beschreiben wie möglich, sie unter eine freie Lizenz zu stellen, nach und nach online zugänglich zu machen und über eine Anwendungs-Programmierschnittstelle (API) maschinenlesbar abrufbereit zu halten? Und schon währenddessen Gelegenheiten und Räume zu schaffen, um Kreative, Programmier:innen und viele andere Menschen weltweit damit arbeiten zu lassen?

Museen als digitale Wunderkammern

In der Bubble derjenigen, die sich um derartige Sammlungen kümmern, dürften sich heute viele einig sein, dass 100.000 maschinenlesbare Insekten auf Dauer wichtiger sind als ein einzelner, nach den Maßstäben der Unterhaltungsindustrie aufbereiteter T-Rex bei Google. Im digitalen Medium ist mehr möglich, als ein digitalisiertes Ding einmal passiv anzuschauen. Digitale Labore und Hackathons verwandeln Museen und andere Kultureinrichtungen in digitale Wunderkammern des freien Spielens, Forschens und Arbeitens, die sie ohne Digitalität nie hätten sein können.

Einzelne Hackathons wie Coding da Vinci und Creating New Dimensions sind dabei spektakuläre Momentaufnahmen, machen uns mit ihren Ergebnissen, den oft kurzlebigen, skizzenhaften Prototypen von Games und digitalem Storytelling, AR/VR-Erlebnissen, Postkarten-Generatoren, interaktiven Visualisierungen und skurrilen digitalen Miniaturkunstwerken greifbar, was in den Sammlungen steckt und wie sie mit dem Rest der Welt zusammenhängen.

Sammlungen als digitales Spiegelbild der Stadt

Die Städte sind und bleiben der lokale, soziale und historische Bezugsraum zahlloser großer und kleiner Sammlungsstätten. Dieser Bezugsraum stülpt sich vor unseren Augen gerade komplett um: Energiewende, Verkehrswende, sich übereinander schiebende Flüchtlingswellen, die ungelöste Wohnungsnot in Deutschland 2023, bei paradoxerweise fortschreitender Landflucht, und all das gleichzeitig. Ohne Daten aus der Stadt – zum öffentlichen und privaten Verkehr, dem Gewerbe, der Umwelt, Versorgung mit Care und Bildung, sonstige Daten der kommunalen und Landes-Verwaltung und vielem mehr – können wir Umfang und Wucht dieser Veränderungen heute nicht mehr verstehen, geschweige denn informierte Entscheidungen über sie treffen. Ist in den letzten Jahren überhaupt ein Werktag vergangen, ohne dass eine Ausgabe des Tagesspiegels mit einer Infografik erschienen ist, in der eine Datenjournalist:in wenigstens versucht hat, Daten aufzubereiten, um eine der spezifischen Miseren Berlins greifbarer zu machen?

Ob irgendjemand in Deutschland schon Smart City ist, oder davor steht eine zu werden – wer weiß das schon? Aber eines ist sicher: Unsere Sammlungen sind aufs engste mit der Stadt verzahnt, durch stadtgeografische, personelle, kultur- und naturhistorische, Zusammenhänge, die wir heute mittels KI aus den umfassendsten und komplexesten Sammlungen ablesen können, und die wir interdisziplinär und insbesondere auch durch Citizen Science überblicken, ergänzen und stets aufs Neue kontextualisieren. Wenn man beobachten kann, dass die Birkenspanner in der Stadt im 19. Jahrhundert aufgrund der Verdunklung des Himmels evolutionär ihre Flügelfarbe von weiß zu schwarz gewechselt haben (der sogenannte Industriemelanismus), dann ist an einem digitalisierten Insekt aus dieser Zeit ein Stück Naturgeschichte der Stadt ablesbar, es wird zu einem Informationsträger mitten aus dem Zeitalter des tiefen menschlichen Eingriffs in diese Geschichte, das heute unsere politische Aufmerksamkeit hat.

Unsere Sammlungen sind so vielfältig verbunden mit Städten, Regionen und Länder, dass selbst die Kurator:innen und Fachreferent:innen der einschlägigen Kultureinrichtungen diese Verbindungen nur ansatzweise überblicken. Die Digitalisierung erlaubt es ihnen jedoch in zuvor ungeahnter Weise, zusammen mit Forschenden, App-Entwickler:innen und Bürger:innen, diese Bezüge in das wachsende digitale Spiegelbild der Stadt einzubringen. Damit ist noch kein einziges Problem der Stadt gelöst, aber im Prozess werden alle Beteiligten zu klügeren, kreativeren, problemlösenden Bewohner:innen unserer öffentlichen digitalen Wunderkammern.

Der T-Rex bei Google Arts and Culture ist nur der Strahl einer Taschenlampe in eine Ecke von einer dieser Kammern. Mit 100.000 Insekten in 3D geht ein ganzer Kronleuchter an, und bei Spektakeln wie den Hackathons werden diese Insekten zu immer wieder neuem Leben erweckt, lassen sie von ungeahnten Seiten erstrahlen. Doch um Sammlungsobjekte in diesen Zustand zu bringen und zu halten, Räume der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen zu eröffnen, und die digitalen Wunderkammern miteinander zu vernetzen, muss sich um die Sammlungen gekümmert werden. Das ist ein vielfältige, oft unsichtbar bleibende, mühevolle Arbeit. Es ist wichtig, dass sie an den Kultureinrichtungen weiterhin und auf Dauer ein Zuhause hat.

Lambert Heller leitet das Open Science Lab (OSL) an der TIB - Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften. 2013 gründete er das Lab gemeinsam mit Ina Blümel. Heller hat Soziologie, Politikwissenschaft und Soziologie studiert und ein Bibliotheksreferendariat absolviert, mit einem Master in Library and Information Science. Er setzt sich für offene Wissenschaft und offene Daten ein.

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