Erweiterte Suche

Smart City

Standpunkte Mit nachhaltiger Digitalisierung die Zukunft gestalten

Yvonne Zwick, Vorsitzende von Baum e.V. (Netzwerk für Nachhaltiges Wirtschaften)
Yvonne Zwick, Vorsitzende von Baum e.V. (Netzwerk für Nachhaltiges Wirtschaften) Foto: A. Hufnagl

Obwohl Wirtschaft und Verwaltung das Potenzial einer nachhaltigen Digitalisierung erkannt haben, schöpfen sie es noch nicht aus. Innovationshemmnisse und unklare Praxisbezüge müssten deshalb ausgeräumt, die Vorteile der Transformation konkret verdeutlicht werden, fordert Yvonne Zwick, Vorsitzende des Netzwerks für Nachhaltiges Wirtschaften (Baum). Nötig sei dafür eine Partizipationskultur und ein offener Dialog zwischen allen gesellschaftlichen Akteuren.

von Yvonne Zwick

veröffentlicht am 09.03.2023

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen

Sprechen wir über Zukünfte. Sie lesen richtig, nicht über die eine Zukunft, die vorstellbar ist, sondern über die vielen, zwischen denen wir wählen können, jede und jeder Einzelne wählen können sollte. Wir sind plural und individuell: als Gesellschaft, in der Wirtschaft und in der demokratisch verfassten Demokratie. Warum also sich festfahren in einer vermeintlich festgelegten Spur? Wir Menschen drängen ohnehin zur Wahlfreiheit – also erhalten wir sie unter sich verändernden Bedingungen.

Nehmen wir uns Zeit für eine ehrliche Zwischenbilanz: Arbeiten wir daran, die Vielfalt an Optionen zu eröffnen, wenn es um Wohnen, den Bezug bezahlbarer Energie aus rundum verlässlichen Quellen und die autonome Wahl der besten Mobilitätsform geht? Wenn es um Bildungswege und Chancen, um Zugänge zur Erwerbstätigkeit und diverse Arbeits- und Familienmodelle geht? Sind wir überhaupt schon so weit, die Chancen zu begreifen, die mit einer konsequenten Ausrichtung von Wirtschaft und Verwaltung auf eine nachhaltige Entwicklung und beschleunigte Digitalisierung verbunden sind?

Digitalisierung im Mittelstand ist rückläufig

Ein Blick auf die wissenschaftliche Evidenz: Eine beschleunigte Digitalisierung kann bis zu 49 Prozent der im Klimaschutzgesetz angesteuerten Emissionsminderungsziele realisieren, wie der Branchenverband Bitkom 2020 gezeigt hat. Satte 80 Prozent der CO2-Emissionen in der deutschen Industrie können zu Null- und Negativkosten realisiert werden, allein indem der Stand der Technik von 2010 genutzt wird, wie aus einer Studie von McKinsey und BDI von 2010 hervorgeht. Null- und Negativkosten heißt: auf potenzielle Renditepunkte durch betrieblichen Umweltschutz wird verzichtet.

Die größten CO2-Einsparpotenziale liegen im Bereich der industriellen Fertigung, in der Mobilität und im Energiesektor. Zugleich ist die Digitalisierung im Mittelstand rückläufig, wie der Nachhaltig-Digital-Monitor von 2022 zeigt. Die Gründe dafür sind Innovationshemmnisse und der unklare Praxisbezug für den Einsatz digitaler Technologien. Zugleich gibt es einen Grundoptimismus bei 51 Prozent der Belegschaften, dass Digitalisierung einen positiven Beitrag zum Erreichen der Klimaziele bis 2030 leisten kann, wie aus einer Erhebung der Internetagentur Hirschtec vom vergangenen Jahr hervorgeht.

Meine These ist – Sie werden es sich denken können – dass wir schneller konkretisieren müssen. Zum Beispiel: bei der Auflösung des Hemmnisses hoher Investitionskosten und unklaren Nutzens. Der europäische Green Deal sorgt theoretisch seit 2019 für Aufbruchstimmung. Kapital ist genug da und es sucht Landeplätze. Infrastrukturprojekte in zukunftsfähige Industrien und regionale Cluster bieten sich dafür an. 

Wirtschaft und Verwaltung als Partner statt als Gegner begreifen 

Anderes Beispiel: unser Denken in Silos und Zuständigkeiten. Meist wird die Wirtschaft auf der einen Seite gesehen, Politik und Verwaltung auf der anderen Seite. Unternehmen schildern Situationen, in denen sie das Gefühl haben, als Bittsteller oder gar Gegner wahrgenommen zu werden, wenn es um die Digitalisierung von Industriegebieten geht, die Genehmigung eines Windrades, den Ausbau von Photovoltaik auf dem Zentrallager, weil sie dadurch zum Stromerzeuger werden und sich mit völlig neuen Auflagen konfrontiert sehen. Die Bearbeitungs- und Bewertungsprozesse müssen schneller werden, das Denken in Smart Grids präsenter.

Vorschlag zum Umdenken: Unternehmen mit derlei Eigeninitiativen sind Partner für das Erreichen von lokalen Nachhaltigkeitszielen wie regionale Energieautarkie mit Erneuerbaren. Standorte profitieren von Erneuerbarer-Energie-Infrastruktur: Es siedeln sich Unternehmen an, die transformationsfreudig sind. Das wiederum zieht junge Menschen in die Region. Nachhaltig ist eine Wirtschaft dann, wenn sie unter dramatisch anderen Bedingungen tragfähig ist. Dramatisch anders werden die Bedingungen zuverlässig, wenn sich die Klimaszenarien bewahrheiten.

Eine moderne Bürokratie ist Problemlöserin und Sparringspartnerin für Zukunftsfähigkeit. Hypermobile Menschen suchen nachhaltig digitale Infrastrukturen – oder sie sind weg. Moderne Politik und Verwaltung arbeitet inklusiv und partizipativ. Sie spricht Talente an. Die Kommunen werden das Engagement ihrer Bürger:innen und Unternehmer:innen brauchen, um Ziele wie zirkuläres Wirtschaften in der Region oder dezentrale Energie- und Speichersysteme aufzubauen und gleichzeitig den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu sichern.

Die „Duale Transformation“ nutzt Gesellschaft, Kommune, Region und Wirtschaft 

Eine gute Partizipations- und Kooperationskultur pflegt den offenen Dialog mit Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden, Kammern, Wirtschaftsförderern, regionalen Banken und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft. Sie ist die Grundlage für eine gelingende Digitalisierungskultur, die selbstverständlich eine Zumutung ist, allein, weil sie mit alten Gewohnheiten bricht und völlig neue Denk- und Arbeitsstrukturen schafft. Zumutung und Segen zugleich sind Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen. Der Lohn ist, dass derlei Innovationsnetzwerke echte Herausforderungen in der Region lösen.

Die duale Transformation, die Entwicklung einer Nachhaltigkeits- und Digitalisierungsstrategie, nützt der Gesellschaft, der Kommune und Region und der Wirtschaft. Je kooperativer, umso wirkungsvoller. Eine gemeinsame Vision und kommunikative Klammer stärkt die Integrationskraft und das Vertrauen in „die Systeme“, die bei einer gelingenden nachhaltigen Digitalisierung gut ineinandergreifen und die Hebel für das in Gang setzen, was im gemeinsamen Interesse liegt: ein attraktiver Wirtschaftsstandort mit guten Unternehmen, denen man eine rosige Zukunft wünscht, weil ihr Geschäftsmodell die regionale Wertschöpfung und gutes Leben in der Region stärkt.

Ob und wie sie das tut, können regionale Innovationsnetzwerke auf Plattformen wie dem Technologienetzwerk „It´s OWL“ sehen und beim branchenübergreifenden Innovationsnetzwerk der Innovationsnetzwerke, in denen Akteure aus den Bereichen Energie, Ernährung, Maschinenbau und Gesundheitswirtschaft zusammenarbeiten. Man stelle sich nur mal vor, die Unternehmen würden in einem Regionalcluster Daten zur unternehmerischen Nachhaltigkeitsleistungen darstellen, mit denen sie zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele in der Region, im Bundesland, im Bund, in der EU und weltweit beitragen.

Das Denken würde sich radikal erneuern. Die Europäische Union würde zum greifbar nahen Wirtschaftsresonanzraum, in dem die Hidden Champions für beste Nachhaltigkeitsleistungen sichtbar würden.

Schöne neue Welt – greifbar nah.

Yvonne Zwick ist seit 2021 Vorsitzende von Baum e.V. (Netzwerk für Nachhaltiges Wirtschaften), zuvor war sie stellvertretende Generalsekretärin des Rates für Nachhaltige Entwicklung und Leiterin des Büro Deutscher Nachhaltigkeitskodex. Sie ist Teil der Expertenarbeitsgruppe KMU der European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG) und arbeitet am europäischen Nachhaltigkeitsberichtsstandard für mittelständische Unternehmen mit. Zwick repräsentiert Baum in relevanten Stakeholdergremien der Bundesregierung, hält verschiedene Beiratsmandate und ist nebenberufliche Lehrbeauftragte an der Mannheim Business School. Heute hält Zwick die Keynote bei der Konferenz „Digitale Zukunft OWL“ in Paderborn.

Lernen Sie den Tagesspiegel Background kennen

Sie lesen einen kostenfreien Artikel vom Tagesspiegel Background. Testen Sie jetzt unser werktägliches Entscheider-Briefing und erhalten Sie exklusive und aktuelle Hintergrundinformationen für 30 Tage kostenfrei.

Jetzt kostenfrei testen
Sie sind bereits Background-Kunde? Hier einloggen