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Werkstattbericht Tante Enso und Vater Staat

Henning Lühr schreibt über die Digitalisierung der Verwaltung.
Henning Lühr schreibt über die Digitalisierung der Verwaltung. Foto: IT Planungsrat

Fehlende Nahversorgung ist vor allem für strukturschwache Regionen ein Problem. Eine Lösung dafür können „Tante-Emma-Läden 4.0“ sein. Doch auch in den Städten könnten solche Angebote einen Mehrwert bieten, glaubt Henning Lühr. Unter anderem könnte die Verwaltung dort Vor-Ort-Services anbieten.

von Henning Lühr

veröffentlicht am 01.08.2023

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Bremen ist die Stadt der kurzen Wege: Klein, gut vernetzt, innovativ und weltoffen! „Een Dörp mit Strootenboon“, wie man im Bremer Platt treffend sagt. Apropos Straßenbahn: In einer Straßenbahn haben sich im Frühjahr 2016 die Gründer des Start-ups „my Enso“, Thorsten Bausch und Norbert Hegmann, nach längerer Zeit mal wieder getroffen und über ihre gegenwärtige Arbeit und ihre Pläne gesprochen. Am selben Abend trafen sie sich dann noch einmal und redeten ausführlicher. Dabei entstand die Idee „Tante Enso“, quasi ein „Tante-Emma-Laden 4.0“. Ab 2017 wurde dieser Plan dann in Schritten realisiert.

Mit einem wirtschaftlich starken Lebensmittelhändler, der selbst Supermärkte betreibt, und regionalen Produzenten zur Warenversorgung an der Seite wurde ein Genossenschaftsmodell entwickelt, das in ländlichen, strukturschwachen Regionen ein 24/7-Sofortkaufangebot und eine Infrastruktur für Quartiersversorgung ermöglicht. Inzwischen gibt es eine stolze Bilanz: Es sind bereits mehr als 20 Tante-Enso-Läden entstanden.

Per Genossenschaftsanteil zum Ladenstandort

Doch wie funktioniert das Modell der Quartiersversorgung über Tante Enso? Eigentlich ganz einfach: Der klassische Tante-Emma-Laden wurde zu einem zielführenden Lösungsansatz für das Problem der fehlenden Nahversorgung genutzt. Tante Emma stand immer für echte Nähe zu den Menschen. Ein auf die lokalen Bedürfnisse ausgerichtetes Sortiment. Auf die lokalen Bedingungen abgestimmte Dienstleistungen. Zentrale Lage und sozialer Treffpunkt. Geringe Betriebskosten. Ein lebendiger Teil der Gesellschaft.

Aber was fehlte Tante Emma in heutigen Zeiten zu einem attraktiven Anbieter? „Ein umfassendes Sortiment für Vollversorgung. Interessante Artikel über den Standard hinaus. 24/7-Einkauf. Bestellen und beliefert werden können, an jeden Ort, zu jeder Zeit. Digitalisierung und Logistik. Normale Preisgestaltung durch attraktive Einkaufskonditionen.“ Diese Schlussfolgerungen haben die Gründer gezogen.

Dafür wurde das klassische Genossenschaftsmodell reaktiviert. Interessenten:innen in einer ländlichen Region, in einem Dorf oder einem Stadtteil schließen sich in einer Genossenschaft zusammen. Sobald mindestens 300 Anteile an der Genossenschaft von einem Ort verbindlich reserviert sind, wird das Tante-Enso-Konzept dort auch verbindlich realisiert.

Wie funktioniert das Ganze?

Mit einer personalisierten Karte kann die Tür zu den Läden jederzeit geöffnet und auch an der Self-Checkout-Kasse mit ihr bezahlt werden. Dabei ist Tante Enso kein bloßer Selbstbedienungsladen. Ein stationärer Mini-Supermarkt auf 150 bis 200 Quadratmetern, der zwar rund um die Uhr geöffnet und schlank organisiert, aber trotzdem zu bestimmten Tageszeiten auch mit Personal besetzt ist – in der Regel vier bis sieben Stunden täglich.

Das Sortiment ist mit 2.500 bis 3.000 Artikeln so gestaltet, dass es den überwiegenden Anteil der umfassenden Versorgungsbedürfnisse vor Ort abdecken kann. Zusätzlich ist Tante Enso immer auch an den Online-Supermarkt des Start-ups angebunden, in dem die Bewohner des Ortes weitere Artikel bestellen können. Die Einkaufenden können so mit ihren Wünschen das Sortiment mitgestalten.

Vom Dorf bis zur Stadt: Flexibel einsetzbar

Auf dem Land revitalisieren Vorhaben wie Tante Enso den ursprünglichen Tante-Emma-Gedanken und bilden durch die Artikel und Servicebündelung ein neues Zentrum für die Region, das Dorf oder den Stadtteil. Durchaus mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Als Versorgungslösung in urbanen Quartieren liegt der Schwerpunkt eher auf dem 24/7-System und regionalen Produkten. In Seniorenresidenzen spielt Tante Enso ihre Stärken in der Erreichbarkeit für die Bewohner:innen durch personalbesetzte Öffnungszeiten und altersgerechte Services aus.

Denkbar ist, dass die Qualität durch zusätzliche Dienstleistungen noch mehr steigt. Zum Beispiel könnten in solchen Läden Pakete abgeholt oder ein Wäschereservice angeboten werden. Unternehmen und kommunale Insitutionen könnten mit solchen Stellen kooperieren. Genauso wie ambulante Dienste oder stationäre Einrichtungen, um Senior:innen vor Ort zu helfen. Für Vereine gibt es auch viele Möglichkeiten.

Mit dem dem Modell einer Genossenschaft wird der von vielen Soziologen (vor allem Andreas Reckwitz) vorgezeichnete Entwicklungstrend einer „Gesellschaft der Individualitäten“ durch ein Gemeinschaftsprojekt mit einer neuen Gemeinschaftsorientierung und Urbanität aufgefangen. Solche Vorhaben sollten Schule machen.

Lasst uns das Modell weiterdenken!

Keine Angst, es soll keine neue verklärte Neuaufstellung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft geben! Ziel sind praktische Lösungen.

Konkret: Kann die Quartiersversorgung verbreitert, ausgebaut und damit verbessert werden? Kann die Kooperation von Tante Enso und Vater Staat zu einer neuen sektorübergreifenden Dimension der kommunalen, digitalen Daseinsvorsorge weiterentwickelt werden?

In Bremen wird jetzt von Gründer:innen, Wissenschaftler:innen und Verwaltungspraktiker:innen auch unter der Perspektive diskutiert, wie dieser reale und virtuelle neue Mittelpunkt für die digitale Transformation öffentlicher Dienstleistungen genutzt werden kann. Modelle könnten dabei sein, dass öffentliche Dienstleistungen (zum Beispiel Bibliotheksdienste) angeboten werden beziehungsweise generell ein „Vor Ort“-Service für verschiedene Bereiche der Verwaltung eingerichtet wird.

Wie immer bei der Digitalisierung wird es auf die organisatorische Gestaltung der Prozesse ankommen, die im Rahmen digitaler Teilhabe mit den Nutzer:innen intensiv kommuniziert werden müssen.

Henning Lühr ist seit 2021 Honorarprofessor für Verwaltungswissenschaften an der Hochschule Bremen. Er war jahrzehntelang in verschiedenen Positionen in der Verwaltung tätig, zuletzt bis Juli 2020 als Staatsrat für Finanzen, Personal und Digitalisierung in der Freien Hansestadt Bremen. Lühr war Mitglied des Bund-Länder-Gremiums IT-Planungsrat und seiner Vorgängergremien. Er studierte Rechtswissenschaften, Betriebswirtschaftslehre und Geschichte auf dem zweiten Bildungsweg und ist Autor von Bürokratiesatire, Kochbüchern und Fachpublikationen.

Bisher von ihm in dieser Rubrik erschienen: „Wir brauchen ein neues Beamtenrecht“.

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