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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Bidirektionales Laden kann das Speicherproblem der Energiewende lösen

Guillem Ivañez, Experte für bidirektionales Laden bei Wallbox Chargers
Guillem Ivañez, Experte für bidirektionales Laden bei Wallbox Chargers Foto: Wallbox Chargers

Für die Energiewende braucht Deutschland zwischen 70 und 184 Gigawattstunden an kurzfristigen Speicherkapazitäten. Die für 2030 geplanten 15 Millionen E-Autos bieten 700 Gigawattstunden. Da ihre mittlere Betriebszeit bei nur 45 Minuten pro Tag liegt, könnten sie die meiste Zeit „am Netz“ hängen. Zur Überbrückung von Netzengpässen müssten nur zehn bis 15 Prozent angeschlossen sein.

von Guillem Ivañez

veröffentlicht am 12.06.2023

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Bis 2020 hatte es die Elektromobilität in Deutschland schwer. Dank der Verdoppelung des Umweltbonus Anfang 2020 änderte sich das schlagartig, und die Neuzulassungen von E-Autos schossen regelrecht in die Höhe. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland noch einen weiten Weg vor sich hat. So werden laut Europäischer Kommission erst zwei Prozent aller Pkw und Transporter hierzulande vollelektrisch betrieben (BEV).

Zu wenig vor dem Hintergrund, dass der Verkehr der drittgrößte CO2-Verursacher ist. Mit seiner Elektrifizierungsquote liegt Deutschland vor Frankreich und dem Vereinigten Königreich, allerdings weit hinter Schweden, Island oder Norwegen. Aktuell fahren etwas über eine Million E-Autos auf deutschen Straßen; bis 2030 sollen es ambitionierte 15 Millionen werden. Doch wie wirkt sich das auf das Stromnetz und die Versorgungssicherheit aus, und welche Rolle spielt E-Mobilität im Rahmen der Energiewende?

Sind E-Autos Stromnetzkiller oder ist es umgekehrt? 

Immer wieder ist die Rede davon, dass Elektromobilität eine Herausforderung für die Stromnetzstabilität ist. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Der Stromverbrauch eines durchschnittlichen vollelektrisch betriebenen Pkw liegt bei 18 Kilowattstunden pro 100 Kilometer. Bei 15 Millionen E-Autos bedeutet das, dass jedes Jahr etwa 33.000 Gigawattstunden mehr Strom bereitstehen müssten; im Kontext der Energiewende eine Herausforderung. Bis 2030 sollen 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen wie Wind und Sonne stammen. Das heißt, der steigende Bedarf muss zuverlässig aus volatilen Quellen gesichert werden. Bei Dunkelflauten liefern sie allerdings wenig bis keine Energie. 

Aus diesem Grund gibt es Ansätze, die volatilen Grünstromkapazitäten besser mit dem konkreten Bedarf in Einklang zu bringen, zum Beispiel durch Steuerungseingriffe der Netzbetreiber. Diese sollen in die Lage versetzt werden, steuerbare Verbrauchseinrichtungen wie E-Autos bei Netzengpässen herunterzuregeln. Den Strombezug also zu dimmen.

Eine Maßnahme, die bei vielen auf wenig Begeisterung stößt. Das Argument: Können E-Fahrer nicht laden, wie sie möchten oder müssen, verliert die Elektromobilität an Attraktivität und der Bürger ein Stück Autonomie. Zur German Reichweitenangst käme dann die Ladeangst hinzu, was der E-Mobilität einen kräftigen Dämpfer verpassen könnte. 

Vielversprechender ist daher der Ansatz, das nachfrageorientierte Stromerzeugungssystem zu einem dezentralen Demand-Response-System weiterzuentwickeln.

E-Autos als Stabilitätsfaktor für die Energiewende

Wie wäre es, wenn E-Autos als Speicher für Grünstromüberschüsse genutzt werden könnten und ihre Besitzer sie freiwillig gegen monetäre Vorteile für Flexibilitätsdienstleistungen zur Verfügung stellen könnten? Anreize könnten reduzierte Netzentgelte oder lukrative Strom-Arbitrage-Geschäfte darstellen. Diese dezentralen Ansätze machen Elektromobilität attraktiver und günstiger, anstatt Bedenken zu schüren.

An dieser Stelle setzt bidirektionales Laden (V2G) an. Es bindet E-Autos ins Stromnetz ein und ermöglicht, dass diese nicht nur Strom beziehen, sondern auch wieder zurückspeisen können. BEV würden zu Stromspeichern. Und eins steht fest: Wer erneuerbaren Strom will, braucht Speicherkapazitäten. So schätzen Experten, dass zwischen 70 und 184 Gigawattstunden an kurzfristigen Speicherkapazitäten benötigt werden.

Ein Klacks vor dem Hintergrund, dass 15 Millionen E-Autos ein Speicherpotenzial von etwa 700 Gigawattstunden abbilden. Da ihre mittlere Betriebszeit bei nur 45 Minuten pro Tag liegt, könnten sie die meiste Zeit „am Netz“ hängen als mobile Speicher. Zur Überbrückung von Netzengpässen müssten nur zehn bis 15 Prozent der 15 Millionen BEV am bidirektionalen Netz hängen. Die große Bedeutung der bidirektionalen Technologie hat  auch die Politik erkannt; im Koalitionsvertrag steht: „Wir werden bidirektionales Laden ermöglichen, (…).“

Asiatische Automobilkonzerne stärker vertreten  

Grundsätzlich ist die Technik auf Fahrzeug- und Ladeinfrastrukturseite marktreif. Die ersten bidirektionalen Ladegeräte sowie BEV gibt es bereits. Einige wenige bidirektionale Wallboxen kommen sogar schon mit dem CCS-Ladestecker, dem europäischen Standard, auf den Markt. Was schwerer wiegt, ist die geringe Auswahl an bidirektionalen E-Autos. Aktuell listet der ADAC gerade mal vier CCS-kompatible Modellreihen auf seiner Website. Insgesamt fällt auf, dass asiatische Automobilkonzerne stärker vertreten sind. Verschläft die heimische Industrie etwa den bidirektionalen Trend? 

Das trifft nicht ganz den Kern. Denn tatsächlich ist es so, dass V2G nur in Verbindung mit Smart Metern Sinn ergibt, um messen zu können, wann wieviel Strom zurückgespeist wurde. Beim Smart Meter Rollout hinkt Deutschland allerdings mit nur 160.000 Smart Metern im Jahr 2021 bei insgesamt 50 Millionen Messlokationen stark hinterher.

So gut wie alle europäischen Nachbarn sind weiter. In Dänemark und Schweden haben alle Haushalte intelligente Messsysteme. Das kürzlich verabschiedete Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende will das ändern. Doch Papier ist geduldig. Daher ist es wichtig, dass die Haushalte über die Möglichkeiten im Zusammenhang mit Smart Metern, E-Autos und V2G aufgeklärt werden. Außerdem ist es wichtig, attraktive Anreize anzubieten. Nur so wird sich V2G etablieren können, um die enormen Speicherkapaziäten für die Energiewende zu nutzen.  

Bidirektionales Laden nützt der Batterie

Auch im Bereich Produkthaftung gibt es Stellschauben. Einige Autobauer lehnen Garantien für V2G-genutzte Batterien ab. Sie fürchten, dass die zusätzlichen Ladezyklen die Batterielebensdauer negativ beeinträchtigen. Das muss allerdings nicht sein. Eine Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik schussfolgert sogar, dass V2G den Batterien zugutekommt.

Hintergrund ist, dass Batterien altersbedingt schneller kaputt gehen als durch Ladezyklen. Zudem werden die während der Fahrzeuglebensdauer potenziell möglichen Ladezyklen gar nicht aufgezehrt. Insgesamt werden während der Fahrzeuglebensdauer rund 1500 Volladezyklen benötigt, Batterien bieten heute aber schon 3000 bis 4000. So kommt das Institut zu dem Schluss, dass es besser ist, die Zyklenzahl der Batterie auszuschöpfen, weil diese sonst kalendarisch altere und chemisch kaputt gehe. Insofern kann V2G die kalendarische Batteriealterung sogar verzögern.

Also kein Grund mehr zu zögern? Wer den Fortschritt und die Energiewende vorantreiben möchte, sollte auch Technologien wie V2G vorantreiben. Nicht nur auf dem Papier. Hierfür wird es nötig sein, dass Politik, Industrie und Stromversorger kollaborieren. Das Augenmerk muss dabei auf das Große und Ganze gerichtet sein und nicht nur auf die eigenen Interessen.

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