In der noch knapp ein Jahr laufenden Legislaturperiode soll die Regulierung des öffentlichen Nahverkehrs auf der Straße reformiert werden. Der jetzt bekanntgewordene Referentenentwurf zum Personenbeförderungsgesetz (PBefG) beflügelt die Phantasie der Marktteilnehmer. Er sieht zwar vor, dass umfassend digitalisiert wird, eine Deregegulierung findet jedoch nicht statt. Dieser vermeintlich kleinere Schritt steht der notwendigen Verkehrswende aber nicht im Weg, da sich auch ohne Deregulierung neue Möglichkeiten ergeben. Eine Analyse in fünf Thesen.
1. In der Pandemiezeit ist der Faktor Verfügbarkeit des Pkw ausschlaggebend
Obwohl wissenschaftliche Untersuchungen und die Nachverfolgungen von Ansteckungen zeigen, dass von der Nutzung von Bus und Bahn keine erhöhte Ansteckungsgefahr ausgeht, greifen mehr Menschen auf Pkw (und Fahrrad) zurück. Der vermeintlich größere Schutz, aber vor allem die ständige Verfügbarkeit des Pkw, schlagen im Moment das ökologische Bewusstsein. Das monatliche Mobilitätsbudget liegt seit Jahren bei etwa 330 Euro pro Haushalt pro Monat. Davon geht der größte Anteil in Kosten rund um den eigenen Pkw. Das wird sich 2020 weiter manifestieren. Zusätzliches Geld für andere Formen der Mobilität muss also weiterhin von der Öffentlichen Hand oder den Mobilitätsanbietern aufgebracht bzw. investiert werden.
2. Klassischer ÖPNV und neue Geschäftsmodelle haben es weiterhin schwer
Die allermeisten Städte haben sich – ebenso wie Bund und Länder – ehrgeizige Ziele zur Nutzung öffentlicher Verkehrsangebote gegeben. Viele wollen eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen, beispielsweise bis 2030, erreichen. Sowohl im Fernverkehr auf der Schiene als auch im städtischen und regionalen ÖPNV werden diese Ziele aufgrund der aktuellen Nutzerzurückhaltung nur schwer erreichbar sein. Zumal zur bisherigen Gruppe der sogenannten „heavy Nicht-Nutzer“ die Nutzer hinzukommen, die aufgrund der Pandemie bzw. durch Kurzarbeit und Heimarbeit nicht mehr pendeln wollen oder müssen. Das Ausfallen von Messen, Veranstaltungen, Kulturangeboten oder das reduzierte Nachtleben sorgen ebenfalls für eine deutlich schlechtere Auslastung des ÖPNV. Diese Entwicklung betrifft auch Shared Mobility-Angebote, das Taxigewerbe und die entsprechenden Vermittler.
3. Die geplante Reform des PBefG führt nicht zu Deregulierung
Der jüngste Referentenentwurf zur Novellierung des PBefG zeigt, dass neue Geschäftsmodelle wie Uber in Deutschland regulatorisch nicht zum Zug kommen sollen. Eine Deregulierung findet nicht statt. Vielmehr sollen durch den „Einsatz neuer Technologie“ (alle Zitate aus dem Entwurf) eine bessere Auslastung von Angeboten durch „bedarfsgerechte Vermittlung“ und „intelligente Bündelung“ gelingen, „graue Bereiche“ vermieden und eine neue Genehmigungspraxis installiert werden.
Diese Genehmigungspraxis besteht aus einer neuen Form des Linienverkehrs innerhalb des ÖPNV (Linienbedarfsverkehr), einer neuen Form des Gelegenheitsverkehrs außerhalb des ÖPNV (gebündelter Bedarfsverkehr, sogenanntes Ridepooling) und Anpassungen im Taxen- und Mietwagenverkehr. Länder und Kommunen bekommen hier mehr Kompetenzen. Insbesondere bei der Zulassung bedarfsgesteuerter Linienverkehre hat das kommunale Verkehrsunternehmen zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten. Ein solcher „ÖPNV+“ ergänzt Linienverkehre, zum Beispiel schwach ausgelastete Linien, durch neue On-Demand-Angebote und bleibt insgesamt Linienverkehr-ähnlich.
4. Der ÖPNV muss dem Wettbewerbsnachteil Verfügbarkeit durch kluge Plattformstrategien, Angebote und Marken begegnen
Die angestrebte Reform disruptiert nicht das Geschäft der klassischen ÖPNV-Anbieter. Diese haben jetzt vielmehr die Chance ihre Wettbewerbsvorteile gegenüber Dritten auszuspielen. Dabei dürfen sie nicht auf Zeit spielen und nicht nur das eigene Unternehmen und die eigene Region sehen. Sie sollten vielmehr Kooperationspartner finden, die eigenen Stärken mit den Stärken anderer verbinden und damit die Nutzer einzelner Angebote zu einer großen umfassenden Nutzergruppe verbinden, der alles zur Verfügung gestellt wird. Alle Angebote bündeln sich dann auf einer gemeinsamen Plattform, mit Marktführern wie der Deutschen Bahn, Nischenanbietern und Start-ups. So entsteht ein 24/7-Mobilitätsangebot, das alle Verkehrsmittel einbezieht. Dabei geht es nicht mehr um „make or buy“, es geht vielmehr um „make and cooperate“.
Außerdem bietet diese Mobilitätsplattform weiterführende Optionen, einschließlich Routenplanern und Wetternachrichten für das Radfahren oder Gehen. Sie liefert Informationen über beteiligte Unternehmen und Städte, auch über die Mobilität hinaus (Energie, Bürgerservice, Telekommunikation etc.) und öffnet sich damit für weiterführende Angebote. Diese Plattform stellt wie ein Vermarkter oder ein Vermittler alle Leistungen inklusive Mobilitätskapazitäten für den Nutzer zusammen, der sich einen individuellen Warenkorb zusammenstellen kann. Mit wohl weiteren steuerrechtlichen Anpassungen könnten außerdem auch Arbeitgeber hier Leistungen einkaufen oder Nutzer kaufen sich analog zur Telekommunikation Mobilitätsflatrates.
5. Die Plattform des Mobilitätslogistikers ist der erfolgversprechende Versuch, Rentabilität und Verkehrswende zu verbinden
Die wirtschaftlichen Ergebnisse neuer Mobilitätsdienstleistungen und die aktuelle Entwicklung an Marktkonsolidierung zeigen, dass die Herausforderungen, nicht nur Umsatz, sondern Ergebnis zu erzielen, groß sind. Dieser alles andere als einfache Mobilitätsmarkt ist fragmentiert, teilweise steuerfinanziert und muss mit einem rund 60 Jahre lang gelernten Nutzerverhalten umgehen. Der Zugang zum Nutzer und vom Nutzer als Datenquelle schafft nun neue Möglichkeiten. Schon die heutigen Erfahrungen mit digitalen Angeboten setzen Interaktionsstandards und schaffen neue Ansprüche gegenüber digitalen Anbietern.
Anders als bei „Asset-freien“ Dienstleistungen, zum Beispiel aus dem Sektor der Finanzdienstleistungen, werden Verkehrsunternehmen auch mit der Qualität ihrer Fahrzeuge oder dem Umgang ihres Personals mit dem Fahrgast identifiziert. Der Fernbus hat jedoch vorgemacht, dass auch das „Asset-freie“ Unternehmen Mobilitätsdienstleistungen anbieten kann. Verkehrsunternehmen haben jedoch im Vergleich zu Neueinsteigern klare Vorteile: mehr Wissen und Erfahrung, eine große Kundenbasis, Vertrauen in das Unternehmen und damit in die Datensicherheit.
Kundenzugang und die richtigen Angebote machen den erfolgreichen Mobilitätslogistiker von morgen aus. Dazu muss die Plattformstrategie passen. Neben eigenen Dienstleistungen kann die Plattform auch die Schnittstelle zu Dritten sein. Zu denen, die keine eigene Plattform betreiben können oder wollen, zum Beispiel, weil sie kein eigenes Vertriebsnetz unterhalten. Solche Lösungen können neue Umsätze generieren. Sie setzen allerdings Schnelligkeit, neue Methoden und Prozesse sowie eine leistungsfähige IT voraus. Und vor allem: Sie stellen den Kunden in den Mittelpunkt. Das wiederum macht ein ständiges Lernen aus seinem Nutzerverhalten und daraus resultierende, immer wieder angepasste Angebote und Services notwendig.
Wenn sich die Unternehmen der Mobilität neu fokussieren, gleichzeitig ihren Betrieb stabil und verlässlich gestalten und Angebote entsprechend vermarkten, dann kann die Verkehrswende über diesen starken öffentlichen Verkehr gelingen, weil immer mehr Menschen bereit sind, Nutzer dieses innovativen, verlässlichen und verfügbaren Mobilitätsangebots zu sein.