Am Markt befindliche Systeme bieten unter dem Schlagwort des autonomen Fahrens bestenfalls Teilautonomie: in definierten Geschwindigkeitsbereichen, auf Autobahnen, ohne querenden oder entgegenkommenden Verkehr und nur unter Berücksichtigung von homogenen, gut vorhersehbaren Verkehrsteilnehmenden.
Das Gegenteil findet sich in städtischen Räumen. Hier trifft eine Vielzahl verschiedener Verkehrsmittel in komplexen Situationen auf heterogene AkteurInnen mit verschiedenen Bedürfnissen an den öffentlichen Raum, der mehr als eine reine Verkehrsfläche sein muss. Unter dem Begriff Flächengerechtigkeit wird die bestehende Aufteilung des Straßenlandes diskutiert: Warum wird der Löwenanteil des öffentlichen Lands für Verkehrsflächen für den ruhenden und rollenden Kfz-Verkehr vorbehalten? Warum dienen diese Flächen, nicht den Bedürfnissen aller StadtbewohnerInnen statt den Bedürfnissen des Autos?
Davon ausgehend, hat sich in einigen europäischen Städten die Verkehrsplanung verändert. Die klare Abgrenzung zwischen den Verkehrsflächen wird aufgehoben, um sogenannte Shared Spaces zu schaffen. In den Niederlanden, in Kopenhagen, Paris und Barcelona zeigt das Konzept der geteilten Räume bereits Früchte und die wissenschaftliche Begleitung attestiert großes Potenzial in Bezug auf Verkehrsfluss, Verkehrsdichte und vor allem Verkehrssicherheit und Sicherheitsempfinden.
Neben zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich auch in Berlin für Flächengerechtigkeit stark machen, spricht sich auch der neue Senat im Koalitionsvertrag für ein „Miteinander und nicht ein Gegeneinander“ der Verkehrsteilnehmenden aus – ob es sich hier um dieselbe Vorstellung handelt, sei einmal dahingestellt.
Intuition muss der Algorithmus erst lernen
Nichtsdestotrotz: Autonomes Fahren muss mit diesen Situationen umgehen können, vor allem wenn die generelle Befahrbarkeit urbaner Räume durch Kfz nicht zur Diskussion steht. Das Interesse der Automobilindustrie muss daher lauten, sämtliche Szenarien mit autonomen Fahrfunktionen meistern zu können. Auch urbane Räume und Shared Spaces. Auf eine Art und Weise, dass das selbstfahrende Auto nicht als Gefahr oder Gegner empfunden wird.
Ebensolche geteilten Szenarien stellen autonome Kfz jedoch vor große Herausforderungen: In diesen Räumen verlassen sich Menschen weniger auf klare Regeln als vielmehr auf ihre Intuition, soziale Erfahrungen und Normen. Auch in einer vollen Fußgängerzone ist es uns möglich, einander zu passieren ohne andere übermäßig zu behindern sowie ohne unser eigentliches Ziel aus den Augen zu verlieren. Dafür nutzen wir ein früh erlerntes Verständnis von sozialer Interaktion und sind empfänglich für kleine, scheinbar unbedeutende Signale.
Dieses intuitive Verständnis von menschlichem Verhalten, fehlt autonomen Fahrzeugen. Daher benötigt das selbstfahrende Kfz ein semantisches Verständnis der Situation sowie einen Werteatlas der menschliches Verhalten, soziale Normen und unsere Erwartungen abbildet. Damit wir Menschen uns urbane Räume gerne mit ihm teilen und sich alle Beteiligten dabei sicher fühlen.
Unterschiedlicher Bewegungsradius birgt Risiken
Diese Problemstellungen beschäftigen meine KollegInnen und mich. Mein Ziel ist es, das Verhalten von Radfahrenden in urbanen Räumen mathematisch zu beschreiben, damit autonome Fahrzeuge bestmöglich mit ihnen interagieren können und diese nicht gefährden. Dafür entwickeln wir aktuell einen modellbasierten Ansatz, der auf drei Pfeilern basiert: einem Fahrdynamikmodell für Fahrräder, einer Umfeld- bzw. Infrastruktur- sowie einer Gestenerkennung.
So kann mit Hilfe des Fahrdynamikmodells abgeschätzt werden welche Fahrtmöglichkeiten für Radfahrende überhaupt bestehen. Geometrisch kann man sich die durch ein Fahrrad im nächsten Zeitschritt erreichbaren Positionen wie einen Kegel, vor dem Fahrrad auf die Fahrbahn projiziert, vorstellen. Dies unterscheidet sich deutlich vom dynamischen Potenzial von FußgängerInnen, die beispielsweise ebenfalls einen Schritt zur Seite oder zurück machen können.
Dieser Kegel kann über die Umfelderkennung noch weiter zurechtgestutzt, und Hindernisse in der Kegelfläche direkt ausgeschlossen, werden. Über die Verknüpfung der Infrastruktur mit der Kegelfläche kann den erreichbaren Positionen auch bereits eine initiale Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden. So ist es wahrscheinlicher, dass Radfahrende einem Radweg folgen, als dass sie ohne externe Zwänge auf Gehweg oder Fahrbahn ausweichen.
Neue Herausforderungen für die Sensorik
Weiterhin werden Gesten der Radfahrenden berücksichtigt - nicht nur konkrete Handzeichen. Einige weitere, implizite Signale korrelieren ebenfalls stark mit erwartbaren Aktionen: so ist etwa ein Schulterblick der Radfahrenden nach links ein starker Indikator dafür, dass ein Ausscheren in dieselbe Richtung bevorsteht. Auch diese Gesten helfen uns, den Positionen im Kegel eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen und die Vorhersage zu schärfen.
Wie so oft, ist so ein Modell mit Unsicherheiten behaftet: So können starke FahrerInnen auf einem E-Bike sehr stark beschleunigen – der Kegel wird länger. Ein Rennrad ist agiler als ein Lastenrad – der Kegel wird breiter. Ähnlich sieht es bei der Infrastruktur- und Gestenerkennung aus, die allein schon aufgrund der auf dem Fahrzeug zur Verfügung stehenden Sensorik eine Herausforderung sind.
Dennoch besteht somit die Möglichkeit, dass ein autonomes Kfz eine Intuition dafür entwickelt, was Radfahrende machen können und machen möchten. Dieses Wissen kann das selbstfahrende Auto in seine Fahrstrategie einbeziehen, da es wahrscheinliche Positionen des erkannten Radfahrenden im nächsten Schritt bereits kennt. Genau wie es vorrausschauende, menschliche Fahrzeugführende machen. Und ganz im Sinne von „Miteinander und nicht (…) Gegeneinander“.