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Verkehr & Smart Mobility

Standpunkte Unser Tempo auf dem Reduktionspfad ist vernichtend langsam

Julian Zuber, Geschäftsführer von German Zero
Julian Zuber, Geschäftsführer von German Zero Foto: Promo

Der Verkehr erreicht die Klimaziele der Bundesregierung nicht. Dabei sind die ohnehin nicht kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel. Nötig wäre ein deutlich schnellerer Abschied vom Verbrennungsmotor.

von Julian Zuber

veröffentlicht am 14.07.2023

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Verkehrsminister Wissing erklärte im Tagesspiegel-Interview kürzlich, es sei Bürger:innen nicht zu vermitteln, Einschränkungen hinzunehmen, obwohl man die Klimaschutzziele für 2022 insgesamt erreicht hätte. Damit rechtfertigte er die Novelle des Klimaschutzgesetzes (KSG) und die abgeschaffte Sektorzielsetzung, was zuallererst das Verkehrsministerium um eine klare Verantwortung für die deutschen Klimaziele erleichtern wird.

Doch die wesentliche Erkenntnis aus dem letzten Emissionsbericht des Umweltbundesamts (UBA) lautet nicht etwa, dass wir die „Klimaschutzziele insgesamt erreicht haben“, sondern, Zitat UBA-Präsident Dirk Messner: „Um die Ziele der Bundesregierung bis 2030 zu erreichen, müssen nun pro Jahr sechs Prozent Emissionen gemindert werden. Seit 2010 waren es im Schnitt nicht einmal zwei Prozent.“ Übersetzt heißt das: Unser Tempo auf dem Reduktionspfad ist vernichtend langsam. Das ist das erste Defizit der deutschen Klimapolitik.

Das zweite Defizit: Noch immer versäumt es die Bundesregierung, Klimaziele am deutschen Restbudget auszurichten. Basierend auf Berechnungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen bleibt Deutschland aktuell ein Ausstoß von 2,3 Gigatonnen CO2-Äquivalente, um seine Pariser Verpflichtungen zu erfüllen. Mit dem aktuellen Klimaschutzgesetz werden bis 2045 noch mindestens 7,2 Gigatonnen ausgestoßen. Das allein verdeutlicht, dass das Ziel der Klimaneutralität viel zu spät gesetzt ist. Um im Rahmen des uns zustehenden Restbudgets zu agieren, muss Deutschland spätestens bis 2035 klimaneutral werden – und schafft auch das nur noch durch zusätzlichen internationalen Ausgleich.

Deutsche Deckungslücke von 3200 Millionen Tonnen CO2

Gleicht man die Zahlen mit dem aktuellen Projektionsbericht der Bundesregierung ab, zeigt sich nach unseren Berechnungen bei GermanZero: Zur Einhaltung der Pariser Klimaziele klafft eine Deckungslücke von knapp 3200 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente, für die es zusätzliche Lösungen braucht.

Was das praktisch bedeutet, lässt sich am Verkehrssektor darstellen, hier ist die Notwendigkeit zum Handeln besonders sichtbar. Ein Fünftel aller Emissionen sind 2022 im Verkehr angefallen. Seit 30 Jahren ist der Treihausgas-Ausstoß dort nicht gesunken, allen Bemühungen von Verkehrsplaner:innen, Umweltorganisationen und Politik zum Trotz.

Das hat einen Grund: Individuelle Mobilität ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, auf der ganze Lebensentwürfe und Geschäftsmodelle fußen. Und diese individuelle Mobilität findet vor allem auf der Straße statt, und damit fast ausschließlich in Fahrzeugen mit Verbrennermotoren:

  • Fast 98 Prozent der Verkehrsemissionen entstehen im Straßenverkehr

  • Knapp 59 Prozent der Verkehrsemissionen stammen von Pkw

  • Weitere knapp 30 Prozent der Emissionen stammen von Lkw und Bussen

Die Schlussfolgerung ist offensichtlich: Wollen wir die Verkehrswende hin zu einer emissionsfreien Mobilität schaffen, steckt die höchste Wirksamkeit im Rückbau des fossilen Kapitalstocks. Dafür braucht es innovative Rahmenbedingungen, in der sich eine fossilarme Mobilität sozial gerecht entfalten kann.

Minus 77 Prozent durch früheres Verbrenner-Aus bei Pkw und Lkw

Die klimapolitischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte bedeuten heute: Um den Verkehrssektor in die Spur und Deutschland auf einen angemessenen Reduktionspfad zu bringen, braucht es stark wirksame Maßnahmen. Das Verkehrsministerium selbst muss eine Lücke von aktuell 793 Millionen Tonnen CO2 über drei Hebel schließen:

  • Pkw und Lkw mit Verbrennungsmotor bis 2035 geregelt aus dem Verkehr holen

  • Kosten für fossile Mobilität spürbar erhöhen (CO2-Preis und emissionsbasierte Lkw-Maut)

  • gleichzeitig die Alternativen zum motorisierten Individualverkehr fördern. 

Allein das kontrollierte Ausscheiden von Verbrenner-Pkw aus dem Fahrzeugbestand bis 2035 könnte die Emissionen um 374 Millionen Tonnen CO2 senken. Um das sicherzustellen, braucht es einen Neuzulassungsstopp für Pkw mit Verbrenner-Antrieb ab 2025. Gleiches gilt für Nutzfahrzeuge: 133 Millionen Tonnen CO2 spart ein Erstzulassungsstopp für Lkw ab 2030. Die Radikalität dieser Gesetzesänderung sollte im direkten Vergleich zur Radikalität ihrer Emissionswirkung betrachtet werden: Ein vorgezogenes Verbrenner-Aus für Neuzulassungen reduziert Verkehrs-Emissionen um 77 Prozent.

Ein Deutschlandtaktgesetz für mehr Bahnverkehr

Parallel zum fossilen Abbau braucht es den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Zum einen, um eine flexible Alternative zum motorisierten Individualverkehr aufzubauen. Zum anderen, weil sich mit einem umfassenden „Deutschlandtaktgesetz“ 44 Millionen Tonnen zusätzliches CO2 einsparen lassen

„Umfassend“ bedeutet, dass dieses Gesetz erstens den Schienenausbau vorantreiben sollte, wie es die Regierung aktuell verfolgt. Zweitens gilt es aber vor allem ländliche Gebiete an eine ÖPNV-Infrastruktur anzubinden und Mindeststandards für regelmäßige Angebote zu garantieren. Dazu braucht es finanzielle Förderung für die Kommunen. Ein umfassendes Deutschlandtaktgesetz stellt einen elementaren Baustein für die sozial gerechte Verkehrswende dar.

Wie groß ist die Klimawirkung der genannten Maßnahmen? Hierzu hilft ein Vergleich: Die „ÖPNV-Offensive“, die Wissing 2022 vorstellte, spart nach eigenen Angaben 1,55 Millionen Tonnen CO2. Die vorgesehene „Verbesserung von Rad- und Fußverkehr“ 4,36 Millionen Tonnen CO2. Optimisten würden sagen: Besser ein bisschen Klimaschutz als gar kein Klimaschutz“ – aber im Angesicht von 148 Millionen Tonnen CO2, die der Verkehr jedes Jahr in die Luft bläst, sind solche Einspareffekte nicht mehr als THG-Peanuts.

Große Hebel statt Maßnahmen-Klein-Klein

Statt Maßnahmen-Klein-Klein braucht es hochwirksame Lösungen, um das Tempo auf dem Reduktionspfad zu erhöhen. Ausgerichtet am verfügbaren Restbudget haben wir im „Klimanotstandspaket“ sieben konkrete Verkehrsmaßnahmen bilanziert, die zusammen 739 Millionen Tonnen an Treibhausgasen sparen. Sie zeigen, welche Wirkung Klimaschutz tatsächlich entfalten kann und längst auch entfalten muss.

Es ist klar, dass sie mit ihrer Konsequenz nicht dem entsprechen, was aktuell politisch machbar erscheint. Doch der Bau von LNG-Terminals im „Deutschlandtempo“ sowie der beschleunigte Ausstieg aus fossilen Gebäudeheizungen, den die Koalition – zwar mit großen, teils selbst geschaffenen, Schwierigkeiten – auf den Weg bringt, zeigt, dass vieles geht, wenn politischer Mut und Wille da sind.

Wenn die Politik jetzt vom unhaltbaren Versprechen ablässt, Klimaneutralität sei mit einer Laisser-Faire Politik ohne Anpassung unserer Lebensgewohnheiten zu erreichen, bietet sich ihr eine große Chance für die Gestaltung der Gesellschaft: Setzt sie wirksame Maßnahmen um, flankiert mit klugen Regelungen zu sozialem Ausgleich und einer Technologieoffenheit, die den Namen verdient, schafft sie langfristig Gewinn für alle, sei es durch geringere Betriebskosten von E-Autos oder niedrigere Heizkosten durch Wärmepumpen. Das größte Freiheitsprojekt, um Einschränkungen für Bürger:innen zu vermeiden, besteht in der Begrenzung der Erderhitzung auf möglichst 1,5 Grad.

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