Pandora wurde von den Göttern mit Schönheit und Liebreiz ausgestattet, aber ihre Büchse enthielt alle Übel dieser Welt. Verführerisch, aber brandgefährlich – auf diesen Nenner lässt sich auch die im vergangenen Jahr geäußerte Kritik am Data Act bringen, die von Branchenverbänden und CEOs großer europäischer Unternehmen öffentlich kundgetan wurde.
Die durch den Data Act eröffneten Aussichten sind in der Tat verlockend. Anders als viele andere EU-Verordnungen zielt die ab September 2025 zur Anwendung kommende Verordnung nicht primär auf Schutz, Einhegung, Beschränkung ab – sondern auf Entfesselung.
Auf einen Schlag sollen die Nutzer vernetzter Produkte Zugang zu all den Daten bekommen, die sie durch deren Nutzung generieren, und die bisher weitgehend von den Herstellern kontrolliert und unter Verschluss gehalten wurden. Das könnte in der Tat ein entscheidender Schritt sein, um der europäischen Datenwirtschaft einen Wachstums-Booster zu verpassen – und das erklärte Ziel der europäischen Datenstrategie zu erreichen, die EU zur weltweit führenden Datenwirtschaft zu machen.
Während Europa das Rennen um die Monetarisierung von Personendaten verloren hat, ist es stark bei den industriellen und professionellen Daten, die jetzt durch das Internet der Dinge und die Digitalisierung aller Wirtschafts- und Lebensbereiche im Übermaß zu sprudeln beginnen. Jetzt oder nie – diese Chance kann und muss Europa nutzen, um seinen historischen Rückstand in der Digitalwirtschaft und seine Abhängigkeit vor allem von US-amerikanischen Plattformen zu überwinden.
Branchenverbände warnten, Industrie sieht vor allem Chancen
Branchenverbände und CEOs warnten jedoch: Die Verpflichtung zum Datenteilen drohe das Gegenteil dessen zu bewirken, was sie beabsichtige, nämlich eine Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie – unter anderem, weil die Verordnung den Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse aufs Spiel setze. Insofern sei der Data Act eine Büchse der Pandora.
Ganz anders dagegen die aktuelle Stimmung in den Industrie-Unternehmen in Deutschland, die Ende März in einer von Hewlett Packard Enterprise (HPE) in Auftrag gegebenen Umfrage unter 400 Führungskräften vom Marktforschungs-Unternehmen Yougov erhoben wurde. Danach wird der Schutz von Geschäftsgeheimnissen durchaus als die größte Herausforderung des Data Act gesehen – aber zwei Drittel der Befragten sagen, dass sie den Data Act insgesamt eher als Chance denn als Risiko für ihr Unternehmen sehen.
Die meisten Befragten (59 Prozent) sehen dabei das Potenzial, mit den Produktdaten ihre Abläufe zu optimieren und zu automatisieren. Bisher standen zum Beispiel Produktionsleitern die Daten ihrer Produktionsmaschinen oft nur im Rahmen der Dienste des jeweiligen Herstellers zur Verfügung. Künftig können sie Maschinendaten von mehreren Herstellern frei miteinander vernetzen und damit ganze Produktionsprozesse und Lieferketten optimieren.
Ein weiteres Einsatzgebiet der Produktdaten ist das Mega-Thema unserer Tage: das Training Künstlicher Intelligenz (KI). Die große Mehrheit der Industriefirmen sieht aktuell in dem Mangel an Daten in ausreichender Quantität, Qualität und Vielfalt eine der größten Barrieren für den erfolgreichen Einsatz von KI (46 Prozent Zustimmung, 45 Prozent teilweise Zustimmung) – entsprechend große Erwartungen haben sie in die Erschließung der neuen Datenquellen durch den Data Act.
Umsetzungslücke auf dem Weg zur Datenwirtschaft
Die Industriefirmen sehen also die Chancen des Data Act, und sie haben konkrete Vorstellungen, wie sie diese nutzen wollen – allerdings zeigt die Umfrage auch, dass sie dazu ihre Fähigkeit zur Wertschöpfung mit Daten weiter massiv ausbauen müssen.
Zwar bestätigt die große Mehrheit der Befragten, dass Daten zu den wertvollsten Assets ihres Unternehmens gehören – ebenso wertvoll wie ihre Mitarbeiter, ihre materiellen Vermögenswerte und ihr geistiges Eigentum. Allerdings wird diese Erkenntnis bisher kaum praktisch umgesetzt. So sagen beispielsweise nur je 6 Prozent der Befragten, dass ihre Datenstrategie ein Kernbestandteil ihrer Unternehmensstrategie ist, und dass datengetriebene Produkte und Dienstleistungen für ihr Geschäftsmodell strategische Bedeutung haben.
Etwas besser sieht es bei den operativen Datendisziplinen aus. So haben beispielsweise 20 Prozent der Firmen eine unternehmensweite Daten-Governance. Ebenfalls 20 Prozent nutzen Daten, um mittels vorausschauenden oder Trendanalysen ihre Prozesse zu optimieren und zu automatisieren. Und 63 Prozent setzen irgendeine Art von KI oder maschinellem Lernen ein.
Keine Abkürzung auf dem Weg zur Datenökonomie
Dennoch ist es für die meisten Unternehmen noch ein weiter Weg, bis sie Daten strategisch, systematisch und effektiv für ihre Wertschöpfung nutzen können. Die Schwierigkeit dabei ist, dass es keine Abkürzung auf dem Weg zur Datenökonomie gibt. Es gibt nicht die eine Methode oder Killerapplikation – etwa KI –, die ein Unternehmen auf die nächste Stufe katapultiert. Es hilft nur ein ganzheitlicher Ansatz, der Strategie, Organisation, Unternehmenskultur und Technik gleichermaßen transformiert.
Dieser Weg ist schwer, doch er lohnt sich, denn wir können und müssen die Jahrhundertchance ergreifen, die Europa mit der Monetarisierung industrieller und professioneller Daten hat.
Laut Hesiod wurde die Büchse der Pandora geschlossen, bevor auch die in ihr enthaltene Hoffnung entweichen konnte – mit dem Data Act haben wir die Chance, diese Geschichte neu zu schreiben.
Marc Fischer ist Deutschland-Chef von Hewlett Packard Enterprise. Zuvor war er unter anderem in leitenden Positionen für IBM und Lenovo tätig.