Viel wird um die sogenannte digitale Souveränität gerungen und mit ihr werden je sehr unterschiedliche Ziele verfolgt. Häufig wird digitale Souveränität im territorialen Sinne verstanden — als die Fähigkeit einer Nation oder Gemeinschaft zur Selbstbestimmung im Digitalen. Oft, aber nicht immer, wird digitale Souveränität in der Unabhängigkeit öffentlicher Einrichtungen von multinationalen Konzernen gesehen. Seltener zwar, aber zunehmend häufiger, ist die digitale Souveränität von Individuen gemeint. Die Sorge gilt dann vor allem der Erhaltung der Freiheit Einzelner gegenüber möglichen staatlichen und behördlichen Eingriffen im Zuge der digitalen Transformation.
Beispielhaft für eine Debatte um digitale Souveränität von Bürger:innen gegenüber dem Staat steht der niederländische Skandal, der Ministerpräsident Mark Rutte 2021 zum Rücktritt zwang. Im sogenannten Kinderbeihilfe-Skandal ging es um die fehlerhafte algorithmische Detektion von Betrugsfällen beim Kindergeldbezug. Über sechs Jahre lang blieb das Ausmaß der zahlreichen Fehlentscheidungen unentdeckt.
Digital souveräne Bürger:innen wären über die behördlichen Mechanismen hinreichend informiert gewesen, um rechtzeitig Bescheide durch Widersprüche infrage zu stellen. Auch hätten geeignete institutionelle Kontrollen den Einsatz eines ganz manifest mit Vorurteilen behafteten Algorithmus verhindert und Bürger:innen vor Diskriminierung geschützt.
Der Diskurs zur digitalen Souveränität oszilliert jedoch zwischen territorialem und individuellem Bedeutungspol. Es wird verkannt, dass diese auf intime Weise miteinander verknüpft sind, gleichwohl Bestrebungen in die eine oder andere Richtung sich aktuell als oft nicht vereinbar erweisen. Diskurse, die die territoriale Bedeutung digitaler Souveränität betonen, lenken meist von den Belangen von Minderheiten und marginalisierten Gemeinschaften ab, denen jedoch Gehör geschenkt werden müsste.
Bei der Ausgestaltung möglicher Maßnahmen sind immer gleich mehrere öffentliche und private, zum Teil mächtige Interessengruppen beteiligt. Der Philosoph Luciano Floridi hat schon 2020 treffend attestiert, dass die Bürger:innen unter diesen Bedingungen meist das Nachsehen haben.
Wie kann die Vereinbarkeit von individueller und territorialer digitaler Souveränität gelingen?
Die Suche nach einem wissenschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und individuellen Weg gleicht einer scheinbar unorganisierten, analytisch kurzsichtigen Irrfahrt — Sie gleicht den Lösungsversuchen sogenannter unstrukturierter Probleme. In dieser Problemkategorie erscheint selbst die Beschreibung des Problems unscharf. Gerade darin liegt aus Perspektive der Technikforschung eine Chance. Es bleibt ein iterativer Zugang: Erkenntnisse aus theoretischen und praktischen Lösungsversuchen erlauben nach und nach die Schärfung der Problembeschreibung. Dieses Phänomen ist vor allem im künstlerischen und ingenieurstechnischen Design bekannt.
Auch in der angewandten Ethik wird der Begriff verwendet, um anzudeuten, dass sich die ethisch relevanten Faktoren erst beim Durchdenken möglicher Handlungsoptionen offenbaren. Neuere Forschungen zu unstrukturierten Problemen betonen die kommunikativen Herausforderungen und die Bedeutung vielfältiger und nicht-exklusiver Wissensformen für demokratische Prozesse.
Das Konzept des unstrukturierten Problems (ill-structured problem) geht auf den Sozialwissenschaftler Herbert A. Simon zurück. In einem Aufsatz von 1973 beschrieb er unstrukturierte Probleme als Nebenprodukt wohlstrukturierter Probleme (well-structured problems). Letztere seien von Mathematiker:innen und Informatiker:innen produzierte Problemdefinitionen, die dann durch mathematische Ansätze und somit von Computern quasi „autonom“ bearbeitet werden könnten. Das Nebenprodukt des Strukturierens und automatischer Verarbeitung sah Simon als Residuum, das sich nicht anders als in Abgrenzung zur Strukturierung beschreiben ließ. Dies führte ihn zu der Schlussfolgerung, dass keine scharfe Grenze zwischen strukturierten und unstrukturierten, zwischen wissenschaftlich formalisierbaren und sozialen Problemen existiere.
Woran Digitalisierung scheitert
Die Gedanken Simons legen nahe, dass der Prozess der Digitalisierung als ein informatischer Strukturierungsprozess verstanden werden kann, dessen Residuum als unstrukturierte Frage dazu zu begreifen wäre, wie wir die autonome Handlungsfähigkeit von Nationen und Bürger:innen im Rahmen der digitalen Transformation bewahren und herstellen können. So ergibt sich ein Bild, in dem die Frage territorialer und individueller digitaler Souveränität denselben Ursprung haben. Digitalisierung scheitert immer wieder an der Stärkung von Bürgerrechten und nationaler Handlungsfähigkeit. Das muss nicht so bleiben, ist aber wahrscheinlich, solange Digitalisierung nicht als politisch-sozialliberaler Impuls angenommen wird, sondern vorrangig auf Effizienzsteigerungs- und Wachstumsversprechen fußt.
Hat die Frage digitaler Souveränität aber in der Tat den Charakter eines unstrukturierten Problems? Einige Indizien deuten darauf hin: Die Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen, Industrien und politische Akteure, aber vor allem die allgemeine Bevölkerung, tun sich allesamt schwer mit einer klaren Beschreibung der Herausforderungen. Serviceorientierte Ansätze digitalisierter öffentlicher Verwaltung betrachten Bürger:innen als Kund:innen und nehmen diese so in ihrer demokratischen Kapazität nicht ernst. Gleichzeitig zeigen sich signifikante Wechselwirkungen. Allein die Kontinuität des Cyberspace lässt eine durch nationale Grenzen beschränkte Konzeption digitaler Souveränität als willkürlich erscheinen.
Digital first, Bedenken second?
Wissenschaft und Politik diskutieren über digitale Souveränitäten, die in einem ständig verändernden Umfeld umgesetzt werden sollen. Die digitale Transformation wirft mehr als nur ihren Schatten voraus, sie zeigt längst spürbare Auswirkungen und bleibt gleichzeitig völlig ergebnisoffen. Ein Verständnis digitaler Souveränität als unstrukturiertes Problem legitimiert jedoch kein digitalpolitisches Trial and Error wie es etwa Christian Lindner (FDP) auf Plakaten zur Bundestagswahl 2017 ausdrücken ließ: „Digital first, Bedenken second“.
Natürlich sollte aus vergangenen Fehlern gelernt werden. Wichtig erscheint in Anbetracht des Ausmaßes der Risiken — der niederländische Skandal illustriert diese —, dass wir uns ob unseres Unvermögens sozio-technische Wechselwirkungen vorauszusehen, um eine möglichst inklusive Diskursgestaltung bemühen. Die Unstrukturiertheit des Digitalisierungsunterfangens anerkennen, heißt, aufmerksam zu bleiben. Wir sollten uns nicht einem Blindflug überhöhter Digitalisierungsprophezeiungen ergeben.
Wichtig ist ein kontinuierlicher Austausch über die Motivationen unterschiedlicher Akteure. Erinnert sei daran, dass reduktionistische Konzepte die Aufmerksamkeit von sozio-ethischen Entwicklungen ablenken können. Anzuerkennen, dass digitale Gesellschaften bereits eine Geschichte haben, kann letztendlich dazu beitragen, Unsicherheiten zu erkennen und die Zukunft zu gestalten.
Christian Herzog ist Professor für Ethische, Rechtliche und Soziale Aspekte der KI und Leiter des Ethical Innovation Hub an der Universität zu Lübeck, Daniela Zetti ist Technikhistorikerin und dort Post-Doc.