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Digitalisierung & KI

Standpunkte Gekommen, um zu bleiben

Paul Timmers, Oxford Internet Institute
Paul Timmers, Oxford Internet Institute Foto: Arenda Oomen

Wer hätte es vor einigen Jahren gedacht – aber Europas Souveränität, auch in der digitalen Welt, wird endlich strategisch angegangen, glaubt der Ex-EU-Beamte und Digitalexperte Paul Timmers vom Oxford Internet Institute. Etwas anderes könnten wir uns auch kaum leisten.

von Paul Timmers

veröffentlicht am 15.09.2022

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Das Thema europäische Souveränität ist da, um zu bleiben. Sie wird in den kommenden Jahren, vielleicht sogar im kommenden Jahrzehnt, Chefsache auf EU- und nationaler Ebene bleiben. Unsere Souveränität wird weiterhin durch geopolitische Spannungen bedroht sein, durch Kriege, die vor unserer Haustür toben, durch die Störung digitaler Systeme und globale Herausforderungen vom Klima über Pandemien bis hin zur Cyberkriminalität.

Schützen, was uns gehört

Souveränität ist keine leere Worthülse, auch wenn die Bedeutung nicht eindeutig ist. Es geht um unsere Werte, unsere Lebensweise, unsere Menschen und unser Territorium. Es geht um das, was wir im digitalen Raum wertschätzen, um das, was „uns gehört“, wie EU-Kommissar Thierry Breton es einmal ausdrückte. Was er meinte: Unsere Gesundheitsdaten gehören uns, unsere Domänennamen .eu und .de gehören uns und unser europäischer digitaler Covid-Pass gehört uns.

Souveränität ist nur dann wirkliche Souveränität, wenn sie zwei wichtige Eigenschaften hat: Es muss eine interne und eine externe Legitimität geben. Interne Legitimität bedeutet, dass Regierung und Bürger sich gegenseitig anerkennen, akzeptieren und respektieren. Externe Legitimität bedeutet die Anerkennung durch ausländische Staaten. Vielleicht ist es paradox, dass die europäische Souveränität die nationale Souveränität stärken kann, sowohl nach innen wie auch nach außen. Ein gutes Beispiel ist der europäische digitale Covid-Pass: Erhöht er die interne Legitimität der Regierung, auf nationaler und europäischer Ebene? Ja. Schafft er einen Wert, der uns gehört? Ja, den Wert der Reisefreiheit. Erhöht er unsere externe Legitimität in der Welt? Ja, über 64 Länder mit einer Milliarde Menschen haben eine Lösung, die mit dem Europäischen Grünen Pass konform ist.

Übrigens können wir heute ohne weiteres den Begriff der europäischen Souveränität verwenden. Wie anders war das noch vor vier Jahren! Im Jahr 2018 hatte der damalige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, seine Rede zur Lage der Union so überschrieben: „Die Stunde der europäischen Souveränität ist gekommen“. Halb Europa sagte ihm damals, dass es sich nicht ziemt, von europäischer Souveränität zu sprechen. Vor kurzem machte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die europäische Souveränität zu einem der drei Hauptthemen seiner wegweisenden Rede an der Prager Karls-Universität. Er benutzte den Begriff mehrfach.

Was ist zu tun?

Um unsere Souveränität zu verteidigen und zu stärken, müssen wir über Fähigkeiten (Capabilities), Kapazitäten (Capacities) und Kontrolle (Control) verfügen. Dies wird auch als strategische Autonomie bezeichnet – die 3Cs. Dabei geht es darum, was wir wissen, wie viel wir tun können und dass wir selbst entscheiden können. Heutzutage gibt es Initiativen zur strategischen Autonomie vor allem in den Bereichen Energie (natürlich!), bei der Verteidigung und im Digitalen. Unsere Garanten für die digitale Vorreiterschaft der EU sind die Investitionspolitik für Halbleiter (43 Milliarden Euro im EU-Chipgesetz), Cloud-Initiativen (inspiriert durch die deutsch-französische Gaia-X-Initiative) und neue EU-Gesetze zu digitalen Plattformen und digitaler Identität.

Es gibt viele kritische Stimmen zu diesen Initiativen. Es ist gut, kritisch zu sein, aber ich würde sagen, wir sollten diese Kritik auf eine Art und Weise üben, die dazu beiträgt, die europäische Souveränität zu stärken. Es gibt Stimmen, die sagen, dass Europa nicht versuchen sollte, alles allein zu machen. Autarkie ist nicht der richtige Weg, sagen sie. Aber kein vernünftiger Politiker hat das jemals behauptet. Diese Debatte ist veraltet. Strategische Autonomie bedeutet fast immer Zusammenarbeit mit anderen Ländern. Bei der Gegenseitigkeit muss es ein Gleichgewicht geben, eine Gegenleistung. Vorzugsweise mit gleichgesinnten Partnern, aber wir müssen auch eine gemeinsame Basis für gemeinsame globale Herausforderungen wie den Klimawandel suchen, der uns alle bedroht. Der Planet ignoriert unsere menschlichen Ansprüche auf staatliche Souveränität.

Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die sagen: Lasst uns unsere Souveränität zurückerobern. Ich frage: Unsere Souveränität über was? Social-Media-Plattformen? Cloud? KI? Nun, das ist das gleiche Argument wie beim Brexit. Martin Wolf von der Financial Times hat es wirkungsvoll entlarvt. Er sagte, dass man sich nicht zurückholen kann, was man nie hatte. Europäische Souveränität ist nicht revisionistisch, sondern zukunftsorientiert. Und mit der besten Forschung und Entwicklung der Welt können sich die Europäer durchaus auf die Zukunft vorbereiten.

Dann gibt es diejenigen, die praktische Realisten sind und fragen: Haben wir genug Geld, um unsere strategische Autonomie zu finanzieren? Können wir wirklich, auch mit Partnern wie den USA, die Kontrolle über die komplexen globalen Wertschöpfungsketten bei Halbleitern erlangen? Die Antworten lauten nein und nein. Wir müssen Entscheidungen treffen, denn das Geld ist begrenzt. Das wird weh tun und wir müssen es sagen. Politiker, die großen Industrieinvestitionen Vorrang einräumen, müssen auch an ihre Verantwortung gegenüber den „Gelbwesten“ denken, die sich im Stich gelassen fühlen. Wir müssen damit rechnen, dass bestimmte kritische Abhängigkeiten bestehen bleiben. Hier können wir von China lernen, das bereits im Jahr 2018 (!) über 30 kritische Auslandsabhängigkeiten analysiert hat. Für jede dieser Abhängigkeiten wird überlegt, was zu tun ist: Lieferanten diversifizieren, ausländische Firmen aufkaufen, einheimische Firmen aufbauen, geistiges Eigentum übertragen – oder schlimmer noch, etwa die niederländischen Geheimdienste warnen, dass der Diebstahl geistigen Eigentums die größte Bedrohung für die Souveränität der Niederlande darstellt.

Lassen Sie mich mit einer positiven Bemerkung schließen: Jean Monnet, einer der Gründerväter der Europäischen Union, hat gesagt, dass „Europa in Krisen geschmiedet wird. Nun, unter dem Druck der anhaltenden Mehrfachkrisen, scheint sich Europa zu verändern. Die Entscheidungsfindung wird schneller. So wurde beispielsweise der riesige Covid-Wiederauffüllungsfonds innerhalb weniger Wochen beschlossen, die ersten Sanktionen gegen Russland ebenfalls, und die jüngsten Rechtsvorschriften im Bereich der Digitaltechnik wurden in etwas mehr als einem Jahr vereinbart, also viel schneller als früher. Die EU-Mitgliedstaaten sind auch eher bereit, auf europäischer Ebene gemeinsam zu handeln, sei es im Bereich Energie, Cybersicherheit oder bei den Chips.

Und schließlich ergreift die EU immer häufiger Maßnahmen in Bereichen, die bis vor kurzem noch tabu waren: gemeinsame Maßnahmen für mehr Cybersicherheit waren früher tabu, weil sie den nationalen Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten gewissermaßen einschränken. Auf ähnliche Weise gibt es nun auch gemeinsame Maßnahmen bei der nationalen Sicherheit, die Covid-Finanzierung zur Konjunkturbelebung in Form von Darlehen und Zuschüssen, die auf europäischer Ebene geteilt werden, sowie gemeinsame Verteidigungsinvestitionen – wie lange haben wir darauf gewartet?!

Werden diese Veränderungen nachhaltig sein? Eigentlich haben wir keine andere Wahl. Wir müssen uns selbst die Kraft geben, zur Verringerung von Konflikten und zur Förderung des Friedens beizutragen. Als EU können wir uns für die Zusammenarbeit bei globalen Herausforderungen in der physischen und digitalen Welt einsetzen und, ohne naiv zu sein, unsere Werte verteidigen. Die europäische Souveränität ist existenziell.

Paul Timmers ist Research Associate an der University of Oxford, am Oxford Internet Institute, Professor an der European University Cyprus und Gastprofessor an der KU Leuven und der University of Rijeka, leitender Berater des EPC Brüssel, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Estonian eGovernance Academy und CEO von iivii. Zuvor war er Direktor bei der Europäischen Kommission/DG CONNECT.

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