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Digitalisierung & KI

Standpunkte Digitaler Wandel: Was bleibt, ist schon lange da

Foto: Privat

Was bleibt von der Covid-19-Pandemie? Vor allem die Erkenntnis, wie wertlos Prognosen sind, schreibt der Zukunftswissenschaftler Christian Schoon im Standpunkt. Wir sollten stattdessen lernen, Zukunft selbst zu gestalten. Und am besten fangen wir mit der Digitalisierung an: Sie sollte in der postpandemischen Zeit zum Motor für soziale Innovationen werden.

von Christian Schoon

veröffentlicht am 22.12.2020

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Die Digitalisierung bestimmt schon seit gut fünf Jahrzehnten das Leben der Menschen. Von den ersten Mikroprozessoren bis hin zu aktuellen Neuerungen in Bereichen wie Künstlicher Intelligenz (KI), Big Data oder Virtual Reality (VR) war die Digitalisierung immer eine weit- und vor allem tiefgreifende Entwicklung mit immer wieder abzweigenden Kontinuitäten. Damit ist die Digitalisierung Basistechnologie und Megatrend zugleich: Sie bildet die Grundlage aktueller Entwicklungen und ist gleichzeitig ihr Treiber.

Megatrends und Basistechnologien zeichnen sich durch ihren enormen Einfluss auf ihre Umwelt aus. Und so prägt die Digitalisierung unser aller Leben nicht nur strukturell, sondern auch kulturell – und stellt tradierte Werte grundlegend in Frage. Darin unterscheidet sich die Digitalisierung nicht allzu sehr von der Covid-19-Pandemie, die unsere wie auch alle anderen globalen Gesellschaften vor enorme Herausforderungen stellt. Der Unterschied besteht darin, dass die Pandemie plötzlich und nicht kontinuierlich die Welt verändert hat.

Die Pandemie: Eigentlich ein Fall für staatliches Risikomanagement

Eine Frage müssen sich viele westliche Nationen in diesem Zusammenhang jedoch stellen: Wieso war man nicht auf die Pandemie vorbereitet? Aufgrund diverser Vorwarnungen von Expertinnen und Experten ist Covid-19 nämlich als ein Black Swan zu verstehen: als ein mögliches, wenn auch unwahrscheinliches Ereignis mit richtungsändernder Wirkung. Damit ist die Pandemie ein klassischer Fall für staatliches Risikomanagement. Dem jedoch wird mal mehr und mal weniger Wert zugewiesen.

Je stärker in solchen Zusammenhängen Pandemien nur als unwahrscheinliche Ereignisse wahrgenommen werden, statt dass man die Bedeutung und die Folgewirkungen eines solchen Ereignisses in Erwägung zieht, desto geringer fällt auch die ihr zugewiesene strategische Priorität aus. Eine erwartbare Konsequenz daraus ist, dass sich die disruptivere Wirkmächtigkeit eines Black Swans erhöht. Um im Fall der gegenwärtigen Pandemie bildlich zu sprechen: Wir können, ob als Staat, Gesellschaft oder Wirtschaft, nur unter sehr großem Stress und voraussichtlich enormen Folgewirkungen entsprechende Antikörper gegen die Krise bilden. 

Wir wissen nichts Faktisches über die Zukunft

Doch nun ist Covid-19 plötzlich da und schon ist es präsenter denn je: die unbändige Neugier auf die Zukunft und die prophetischen Voraussagungen zur Minimierung des Nicht-Wissens auf Null. Und so wurden seit März dieses Jahres viele plausible und weniger plausible Zukunftsbilder über mögliche Umbrüche und Revolutionen in der post-pandemischen Zeit gezeichnet. Sie stießen auf eine enorme Nachfrage. Und das nicht ohne Grund: Gerade in Zeiten der Krise sehnen wir uns nach Aus- und Lichtblicken, die uns einen Weg durch die Härten der Gegenwart weisen. Und wie auf jedem Markt, so hält auch der gegenwärtige gute wie weniger gute Produkte bereit. So treten plötzlich Zukunftsexpertinnen und -experten hervor und werden zu Geschichtsschreibern von Zukünften, welche gehört werden wollen. Sie werden zu Zeichnern von selbstbestätigenden Zukunftsbildern oder zu Wahrsagern von Zukunftswahrheiten über eine post-pandemische Welt.

Nach Bertrand de Jouvenel, einem einflussreichen Vertreter der französischen Zukunftsforschung, liegt die Verantwortung für die Auswahl jener Zukünfte, denen wir Zutrauen schenken, jedoch einzig beim Individuum selbst. De Jouvenel stellt unsere Erwartungshaltung an die Zukunft in den Mittelpunkt: Es gehe nicht darum, die Zukunft zu kennen, sondern vor allem darum, mit ihr umgehen zu können. Anstatt die Unmöglichkeit von Vorhersagen zu verfolgen, sollten Gesellschaften und Organisationen aus Politik, Verwaltung oder Wirtschaft Resilienzen durch ein systematisches Antizipationswissen entwickeln.

Covid-19 hat Prozesse beschleunigt

Für die Frage, was von oder durch Covid-19 bleiben wird, sollten wir alternative und szenarische Möglichkeitsräume inter- und transdisziplinär durchdenken. Entscheider und Entscheiderinnen erhalten so ein langfristiges und ganzheitliches Handlungsspektrum für zunehmend volatile, unsichere, komplexe und ambige Entwicklungen und Zustände. Der in einem Netzwerk global agierende Think Tank „The Millennium Project“ zeigt mit Work/Technology 2050 – Scenarios and Actions wie solche Szenarien aussehen können. So wird der Zukunftsverlauf über drei mögliche Entwicklungspfade abgebildet, die von offenen Gesellschaften mit freien Individuen über einen komplizierten Mix aus Entwicklungsmöglichkeiten hin zu politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen reichen. In den drei Pfaden, auch in einer deutschen Zusammenfassung verfügbar, werden die heute brisanten Themen angesprochen: Klimawandelfolgen, soziale Ungleichheit, Bildungsproblematik, die Rolle von Kunst und Kultur, soziale Absicherungssysteme, neue Be- und Versteuerungssysteme, Auflösung sozial-gesellschaftlicher Werte, politische Polarisierung, Kooperationsverhalten, multilokales Arbeiten oder Selbstständigkeit und viele mehr.

Spannend hierbei ist, dass zuvor weit in der Zukunft vermutete Themen durch Covid-19 in unsere Gegenwart katapultiert wurden und noch immer werden, was die disruptive Wirkung auf Arbeitnehmende und Arbeitgebende von so banalen Dingen wie Videokonferenzen, Homeoffice beziehungsweise mobiles Arbeiten erklärt. Noch im Februar etwa schien eine Welt ohne regelmäßige Konferenzen mit Präsenzpflicht wie eine Tech-Utopie. Und dass im Silicon Valley plötzlich die Landflucht einsetzt, das stellten sich bis dahin allenfalls die Evangelisten des vernetzten Arbeitens vor. Und ja, diese Formen des Arbeitens könnten nach jetzigem Kenntnisstand bleiben und die Arbeit genauso verändern wie der Einzug von digitalen Assistenten und Avataren, Big Data und Data-Mining-Verfahren, die auf neuen Generationen Künstlicher Intelligenz basieren werden.

Wir müssen eine Kultur des Umgangs mit der Digitalisierung entwickeln

Diese Entwicklungen scheinen die zukünftigen Rahmenbedingungen für das Arbeiten in den nächsten Jahrzehnten zu stellen. An denen gilt es sich ab heute strategisch langfristig zu orientieren, um für den digitalen Möglichkeitsraum eine passende Einrichtung sowie Lebens- und Arbeitskultur über bewusst getroffene Entscheidungen aus Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Rechtsprechung und Wirtschaft zu konzipieren.

Doch die drängenden Fragen sind dabei nicht, wie es am Ende aussieht, sondern wie digitale Virtualität, Künstliche Intelligenz, Big Data und Data Mining oder Blockchain und Roboter funktionieren und dass eine Kultur des Umgangs mit diesen Artefakten für eine gerechte Arbeitsgesellschaft und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht wird.

Dafür werden diverse Hebel in Betracht gezogen. Zum Beispiel ein ausgleichendes Steuersystem zur Verringerung sozio-ökonomischer Ungleichheiten, ob nun mit Robotersteuer, Bedingungslosem Grundeinkommen oder Bedingungsloser Grundinfrastruktur. Oder eine kooperative Entscheidungs- und Gestaltungskultur, ob im Mittelstandsbetrieb oder auf Regierungsebene. Denken wir an eine heterogene und ökologisch nachhaltige Wirtschaftslandschaft aus klassischen Industrien, Kulturunternehmungen oder Solo-Selbstständigen, die Fähigkeiten agil und innovativ zu arbeiten, mit eindeutig harten oder soften Skalierungspotenzialen. Vor allem aber benötigt es ein Bildungssystem, welches nicht bis in die Berufsbiographie hinein sozial und kulturell separierend wirkt und welches sowohl junge als auch erwachsene Bürgerinnen und Bürger dazu befähigt, psychologisch, politisch und sozio-ökonomisch resilient in einer virtuellen und digitalen Lebens-, Lern- und Arbeitswelt agieren, handeln und entscheiden zu können. Denn Covid-19 wird nicht der letzte Black Swan und die Digitalisierung nicht der einzige Megatrend unserer Zeit sein.

Christian Schoon ist Zukunftsforscher (M.A.), Vice-Chair vom German Node des Millennium Projects und Mitglied im Foresight Europe Network (FEN). Für die Stadt Köln bietet er in der Funktion als Foresight-Manager einen selbst etablierten Foresight-Service an. Außerdem begleitet er als freier Mitarbeiter bei Future Impacts verschiedene Vorausschauprojekte.  

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