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Digitalisierung & KI

Standpunkte Eine Digitalstrategie für eine gerechte und nachhaltige Gesellschaft

Superrr-Lab-Gründerinnen Julia Kloiber und Elisa Lindinger; Carla Hustedt von der Mercator-Stiftung
Superrr-Lab-Gründerinnen Julia Kloiber und Elisa Lindinger; Carla Hustedt von der Mercator-Stiftung Foto: Marzena Skubatz/Oliver Ajkovic (r.)

Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einer Digitalstrategie. Doch das selbst gesetzte Ziel einer menschenzentrierten Digitalisierung steht im Kontrast zur bisher gelebten Praxis. Wenn wir wirklichen Wandel wollen, braucht es eine Abkehr vom „schneller, höher, weiter“ und eine Entwicklung eigener Visionen für eine nachhaltige und gerechte digitale Gesellschaft, schreiben Julia Kloiber, Elisa Lindinger und Carla Hustedt.

von Carla Hustedt, Elisa Lindinger und Julia Kloiber

veröffentlicht am 23.08.2022

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EU-Kommission und Bundesregierung sprechen gerne von einer „menschenzentrierter Digitalisierung“ oder „dem europäischen Weg der Digitalisierung“. Wir sehen in unserem Arbeitsalltag jedoch, dass diese Haltung noch nicht gelebt wird – mit spürbaren Folgen für die Gesellschaft.

Ein Beispiel ist die digitale Brieftasche, die die vorherige Bundesregierung noch kurz vor der Bundestagswahl forcierte und die mittlerweile als politisches Projekt gescheitert zu sein scheint. Mit dieser ID-Wallet genannten App wollte der Staat es den Menschen einfacher machen, sich auszuweisen oder ihre Qualifikationen zu belegen. Weil die digitale Brieftasche jedoch von Sicherheitslücken durchzogen war und auf unausgereifte Buzzword-Technologien wie Blockchain und Self-Sovereign-Identities (SSI) setzte, musste das millionenschwere Projekt kurz nach der Veröffentlichung wieder eingestampft werden.

Aus den Fehlern der Vergangenheit lernen

Das Problem: Die Verantwortlichen der Digitalpolitik möchten in der Theorie einen menschenzentrierten Ansatz verfolgen, in der Praxis beschränkt sich die Verwaltungsdigitalisierung aber auf eine technokratische Umsetzung trockener juristischer Vorgaben. Im Fall der Dauerbaustelle digitale Identitäten führte das dazu, dass mit großem Aufwand an einer technischen Lösung gearbeitet wurde, die keines der realen Bedürfnisse von Menschen erfüllte: einfache Handhabung, Transparenz, Datensicherheit.

Ein weiteres Beispiel, das vielen geläufig ist, ist die Datenschutzgrundverordnung der EU (DSGVO). Cookie-Banner pflastern unseren Weg durch das Internet und erschweren die Nutzung von Webseiten. Genervt geben Menschen ihr Recht auf Datenschutz und Privatsphäre auf und klicken auf „alles akzeptieren“. Auf einen gut gemeinten juristischen Ansatz folgten keine klaren Vorgaben für eine gute Implementierung, was zum bekannten Cookie-Chaos führte.

Aus den Fehlern der Vergangenheit lernen heißt: Die Zivilgesellschaft bereits dann einzubeziehen, wenn es um die Formulierung der rechtlichen Vorgaben und die Konzipierung von öffentlichen IT-Projekten geht, und dadurch frühzeitig gesellschaftliche Bedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen. Es bedeutet auch, die Implementierung rechtlicher Beschlüsse nicht allein den Tech-Konzernen zu überlassen, sondern klare Vorgaben für eine gute Umsetzung zu machen.

Statt „Höher, schneller, weiter“ eigene Wege entwickeln

Das vermeintliche geopolitische Wettrennen mit China und den USA ist von der Angst getrieben, abgehängt und isoliert zu werden sowie wirtschaftlich im Nachteil zu sein. Deshalb beschränkt sich Digitalpolitik häufig darauf, auf Entwicklungen in anderen Ländern zu reagieren, statt eigene Leitbilder zu entwickeln und sich auf eigene Stärken zu besinnen. Die Idee, dass wir als Gesellschaft um jeden Preis mit jedem neuen technischen Hype mithalten müssen, ist mit vielen Nachhaltigkeitszielen und sozialpolitischen Ansprüchen nicht vereinbar. Wollen wir die großen Herausforderungen unserer Zeit angehen, hilft es daher wenig, sich in internationalen Digital-Rankings zu messen, die Nachhaltigkeit und soziale Faktoren nicht berücksichtigen.

In Zeiten der knappen Ressourcen sind Narrative wie „Höher, schneller, weiter“ überholt. Aktuell orientiert sich die Digitalpolitik an Vorbildern, die mit nachhaltigen und sozialen Zielen im Konflikt stehen. Eine progressive Digitalstrategie lässt sich nicht von der Agenda und den Metriken anderer treiben. Auch die ständige Abgrenzung von anderen und das Bemängeln ihrer Positionen und Herangehensweisen kann die Durchsetzung der eigenen Vorhaben gefährden, weil die Ideen, gegen die man sich eigentlich aussprechen möchte, zum Referenzpunkt werden und in den Köpfen der Menschen hängen bleiben.

Stattdessen gilt es daher, mit mutigen Visionen voranzuschreiten und selbst Standards zu entwickeln, an denen sich andere orientieren können. Solche Visionen können die kollektive Fähigkeit erhöhen, kohärente und strategische Entscheidungen zu treffen – sie motivieren Menschen und bieten ihnen Orientierung. Nur eine visionäre, zielgerichtete Digitalpolitik wird uns daher davor bewahren, den immer neuen Hypes um Technologie blind zu folgen, statt den Nutzen digitaler Technologien für die Menschen zu bewerten.

Um das Land von einer reaktiven hin zu einer aktiven Digitalpolitik zu bewegen und dabei die Bevölkerung für den Wandel zu begeistern, brauchen wir daher positive gesellschaftliche Visionen, die den Alltag der Menschen zum Besseren verändern. Da Technik die Grenzen des Machbaren verschieben kann, muss Digitalisierung von vorneherein mitgedacht werden – ohne dabei Selbstzweck zu sein. Es sind gesellschaftliche Themen, die im Zentrum der Diskussion stehen müssen. Menschen wollen schnelle Internetzugänge und sämtliche Verwaltungsdienstleistungen online erledigen können – das sind keine ambitionierten Zielbilder, es sind Pflichtaufgaben, die erledigt werden müssen.

Gemeinsam ehrgeizige Ziele verfolgen

Ehrgeizige Ziele sind: klimaneutrale Städte, in denen digitale Technologien dafür sorgen, dass die vorhandenen Ressourcen sinnvoll und sparsam eingesetzt werden; digitale Plattformen als Orte, über die gesellschaftlicher Zusammenhalt gestärkt wird; eine Verwaltungsdigitalisierung mit Fokus auf Partizipation und Transparenz.

Um einem „weiter so“ in der Digitalpolitik entgegenzuwirken und als Gesellschaft voranzukommen brauchen wir: Eine echte Digitalstrategie, die gesellschaftspolitische Themen wie Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit priorisiert, anstatt eines Katalogs von Maßnahmen mit unklarer Wirkung. Eine Digitalstrategie, die es erforderlich macht, zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Expertise in frühen Stadien der Entscheidungsfindung und Umsetzung einzubeziehen. Eine Digitalstrategie, die darauf ausgerichtet ist, gemeinsam mit Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft ambitionierte gesellschaftliche Visionen zu entwerfen und auf diese messbar hinzuarbeiten.

Nur wenn die Politik diese Dinge berücksichtigt, wird es möglich sein, Menschen für die Umsetzung zu aktivieren und gemeinsam mit vielen unterschiedlichen Akteuren die Chancen von neuen Technologien für unsere Gesellschaft zu nutzen und die Risiken zu minimieren.

Elisa Lindinger und Julia Kloiber sind Gründerinnen und Geschäftsführerinnen des Berliner NGO SUPERRR Lab; Carla Hustedt, leitet den Bereich Digitalisierte Gesellschaft der Essener Stiftung Mercator, welche die junge Organisation seit Mai 2022 fördert.

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