Im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP nimmt die Modernisierung und Digitalisierung des Staates eine prominente Position ein. Gleich im ersten Kapitel findet sich neben der Vision eines ermöglichenden, lernenden und digitalen Staates auch das Vorhaben, die digitalpolitischen Strategien der Bundesregierung neu aufzusetzen – ein Vorhaben, das bei einem Regierungswechsel so naheliegend wie sinnvoll ist. Schließlich wurde in der vergangenen Legislaturperiode eine Vielzahl von digitalpolitischen Strategien verabschiedet, von der Digitalstrategie über die KI- und Blockchain-Strategie, die Datenstrategie und die Open-Data-Strategie bis zur Cybersicherheitsstrategie, die wesentliche Akzente für das digitalpolitische Regierungshandeln setzen sollten.
Es wäre allerdings wünschenswert, dass beim Neuaufsetzen dieser Strategien aus den Erfahrungen der vorangegangenen Strategieprozesse gelernt wird. Die aktuellen digitalpolitischen Strategien der scheidenden Bundesregierung zeichnen sich nämlich durch eine – positiv formuliert – große Vielfalt in Struktur, Konkretisierungsgrad, Verbindlichkeit und der Art ihres Zustandekommens aus. Um das an drei Beispielen zu verdeutlichen:
- Während einige Strategien, wie etwa die Datenstrategie, eine klare Vision für ihr Themenfeld formulieren, lesen sich andere Strategien eher wie ein Sammelsurium verschiedenster Maßnahmen und Einzelziele, ohne dass eine übergreifende politische Vision erkennbar wäre.
- Einige Strategien, wie etwa die Cybersicherheitsstrategie, haben den Anspruch, messbare Ziele zu formulieren und im Lebenszyklus der Strategie zu überprüfen. Andere Strategien formulieren dagegen eher unverbindliche Absichtserklärungen.
- Auch hinsichtlich der Beteiligung der (Fach-)Öffentlichkeit unterscheiden sich die Strategien erheblich. Die KI-Strategie wurde etwa in einem intensiven und breit angelegten Beteiligungsprozess aus thematischen Fachforen und einer nachgelagerten Online-Konsultation entwickelt. Andere Strategien wiederum scheinen die Beteiligung der Öffentlichkeit eher als notwendiges Übel möglichst aufwandsarm abgehakt zu haben.
Digitalstrategien brauchen einen geteilten Erfahrungsschatz
Man sollte diese Uneinheitlichkeit nicht mit gewollter politischer Vielfalt verwechseln. Es geht schlicht ums Handwerk: Die Bundesregierung verfügt über keine einheitlichen Standards, Vorgehensweisen oder Werkzeuge zur Strategieentwicklung, ja nicht einmal über einen geteilten Erfahrungsschatz, was sich bei vorangegangenen Strategieprozessen bewährt hat und was nicht. Immer, wenn eine neue Strategie geschrieben werden muss, ist die zuständige Stelle gezwungen, den gesamten Strategieprozess „neu zu erfinden“, als ob sie das erste digitalpolitische Papier der Bundesregierung schreiben würde – das ist so ziemlich das Gegenteil des lernenden Staates. Je nach eigener Schwerpunktsetzung werden dabei für die unterschiedlichen Aspekte der Strategieentwicklung mehr oder weniger gute Lösungen gefunden.
Diese handwerkliche Unterausstattung ist kein methodisches Detailproblem, sondern kann politisch fatale Wirkung entfalten: Eine Strategie, deren Ziele sich im Ungefähren verlieren, wird schwerlich handlungsleitende Wirkung entfalten können. Die Art der Beteiligung der Öffentlichkeit entscheidet auch über die gesellschaftliche Akzeptanz der Strategie und das Vertrauen in das Regierungshandeln. Und wenn ein Strategieprozess zwei Jahre dauert, weil sich die Akteure erst einmal über das Vorgehen klar werden müssen, adressiert die Strategie am Ende schlimmstenfalls nur die Herausforderungen der Vergangenheit.
Beim Neuaufsetzen der digitalpolitischen Strategien braucht es daher dringend einen gemeinsamen Standard oder zumindest einen Werkzeugkasten mit guter Praxis für den Strategieprozess. Eine gute Orientierung könnte hier die Europäische Kommission bieten, die über elaborierte Vorgehensweisen für eine systematische Strategieentwicklung, -implementierung und -umsetzung und eine intensive Einbindung der Öffentlichkeit verfügt. Auch in der Bundesverwaltung selbst gibt es dazu genug Erfahrungen und Ideen, sie müssen nur systematisch erhoben und ausgewertet werden. Das würde das Leitbild des lernenden Staates mit Leben füllen und die Verantwortlichen würden sich nicht mehr in der unglücklichen Situation ihrer Vorgänger wiederfinden, das Rad bei jeder neuen Strategie auch jedes Mal neu erfinden zu müssen.
Christin Gärtner und Florian Theißing sind Consultants bei der Cassini Consulting AG. Sie unterstützen die öffentliche Verwaltung bei der Entwicklung von Digitalstrategien – seit dem vergangenen Jahr auch auf Bundesebene.