„Wenn die Dezernentin ein Anliegen hat, dann lege ich sofort meinen Stift zur Seite, dann legen wir alle sofort den Stift zur Seite, bis es erledigt ist.“ So erklärte mir vor einigen Jahren im ersten Gespräch mein neuer Chef in einer kommunalen Verwaltung, wie der Hase läuft. Mein Projekt hatte politische Priorität, ich selbst wollte es aus tiefer Überzeugung umsetzen und als Sachbearbeiterin hatte ich nun eine Maßgabe: Wenn die politische Spitze schnipst, springe ich. Dass es so wortwörtlich kommen würde, konnte ich an diesem Tag im Büro des Abteilungsleiters noch nicht ahnen.
Denn diese Mischung aus Obrigkeitshörigkeit, intrinsischer Motivation und politischem Druck trieb mitunter merkwürde Blüten. So fand ich mich eines Nachts auf dem Zaun der Behörde wieder. Für das Halten einer wiedermal eigentlich unhaltbaren Frist hatte ich solange gearbeitet, dass ich im Gebäude eingesperrt wurde. Ich musste über den Zaun klettern und auf die Straße springen. Ich habe ein Jahr später gekündigt.
Das OZG ist mehr als die BMI-Abteilungen und das viele Geld
Diese kleine Anekdote beschreibt eine Beziehung zwischen der politischen Spitze und ihrer Verwaltung, die schnell zur Stolperfalle für sehr gute Vorhaben werden kann – wie auch der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG). Gerade jetzt überschlagen sich die OZG-Nachrichten mit Superlativen: eine neue Abteilung im Bundesinnenministerium (BMI), ein neuer Bundes-CIO, jede Menge Labore und „jetzt auch noch Konjukturpaket mit Turbo“, wie Marc Reinhardt von Capgemini twitterte. Die #twitterverwaltung feiert zurecht. Die Bundes- und Landtagswahlen und die damit einhergehende Zeit der politischen Profilierung im nächsten Jahr werden zusätzlich für einen kräftigen Schwung sorgen. Corona hat die Notwendigkeit effizienter digitaler Bürgerdienste offenbart und endlich wird die Umsetzung mit dem nötigen politischen Willen auf allen Ebenen gepusht – das ist großartig!
Aber jeder Turbo erzeugt Druck im Rest der Maschine und wenn die Bauteile nicht verstärkt werden, dann droht die Explosion. Die OZG-Maschine, das sind nicht die Abteilungen im BMI und auch nicht das viele Geld. Das sind die Verwaltungsangestellten in den Behörden, in den Kommunen und in den Ressorts. Es ist der Sachbearbeiter in seinem Büro, ganz hinten im Flur, in dem es nach Papierakten und Kaffee riecht. Oder die junge Azubi, die in ihrer Ausbildung als Verwaltungsfachangestellte zwar lernt wie man Akten ablegt, aber noch nie etwas von einem OZG gehört hat.
Irgendwann werden sie was von ihren Vorgesetzten auf dem Tisch gelegt bekommen. Darin heißt es dann sie sollen zum Beispiel ihre Fachverfahren beschreiben, am besten FIM-konform, weil alles soll ja digital und einheitlich werden und bitte jetzt sofort, weil es ist politischer Wille, die Frau Ministerin, der Herr Staatsekretär, der Oberbürgermeister will es so. Aber bitte nicht vergessen, die aktuelle Mängel- und Verzugsliste weiter abzuarbeiten, sie wird immer länger, wir müssen nächste Woche in der Abteilungsleiterrunde berichten und immer freundlich bleiben, wenn das Telefon klingelt, wir haben ja einen modernen Dienstleistungsanspruch.
Die Verwaltungskultur muss sich ändern, damit das OZG Erfolg haben kann
Und damit zurück zu meiner Anekdote: Die OZG-Umsetzung ist nicht nur ein digitales Megaprojekt. Es ist auch ein riesige kulturelle und organisatorische Herausforderung, es ist ein Megaprojekt des Personalmanagements. Präziser: Es ist eine Frage der Führungskultur und der Wechselbeziehung zwischen der politischen Führung und der Führung in der Verwaltung. Wenn ich vom „Verstärken der Bauteile“ schreibe, dann meine ich hier dezidiert die obere Managementebene in der Verwaltung, die letzte Führungsriege vor der Politik. Sie müssen darin gestärkt werden, Nein zu sagen, wenn unrealistische politische Ziele auf Kosten ihrer Leute umgesetzt werden sollen. Sie müssen darin bestärkt werden die politische Spitze dahin gehend zu beraten, was machbar und realistisch ist.
So können sie Raum und Zeit schaffen, um die grundlegendsten Voraussetzungen für die OZG-Umsetzung in ihren Teams zu schaffen. Dazu gehören eine ordentliche Projektplanung, Iterationsrunden, nutzerzentriertes Vorgehen, Reflexionsrunden und Retros. Also ein allgemeines Verständnis für digitales Denken und für das OZG mit seinen Potentialen und Konsequenzen für den Verwaltungsalltag. Nur so werden aus OZG-Leistungen echte Mehrwerte und nicht nur als gutaussehende politische Kennwerte getarnte MVPs (Minimum Viable Product).
Die Verwaltungsführung muss das klare Mandat bekommen, den politischen Willen ihrer Spitze eigenständig und mit der nötigen Unabhängigkeit in die Verwaltungsrealität zu übersetzen. Sonst hilft auch kein Turbo.
Tatiana Muñoz ist SPD-Ortsvorsteherin von
Mainz-Hechtsheim und Beraterin für Verwaltungsmodernisierung und
-digitalisierung. Sie wechselte als Projektmanagerin für erneuerbare Energien in
Lateinamerika für
mehrere Jahre in die Verwaltung. Seither arbeitet sie mit
innovativen Ansätzen und entwickelt Methoden für den Kulturwandel im
öffentlichen Dienst.