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Digitalisierung & KI

Standpunkte Polizeiseelsorge: Wie KI psychische Entlastung bringen kann

Als Seelsorger unterstützt Dietrich Bredt-Dehnen Ermittler, die terabyteweise kinderpornografisches Material sichten müssen. Der leitende Landespolizeipfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland berichtet von digitalen Ermittlungs-Herausforderungen – und der Hoffnung auf KI.

von Dietrich Bredt-Dehnen

veröffentlicht am 29.11.2019

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Es gibt einen Satz, den ich als Seelsorger bei der Polizei oft höre: „Das könnte ich nie!“ Gesagt wird er auch von erfahrenen Polizeibeamtinnen und -beamten, die schon alles an Leid gesehen haben: Leichen, Gewalt, schwerste Unfälle. Aber „Kinderpornografie“, da ist die absolute Grenze des Ertragbaren erreicht.

Denn die Konfrontation mit dieser offenen brutalen Gewalt gegen Babys und Kinder ist potenziell traumatisierend. Wir arbeiten mit Polizeibeschäftigten, die in in diesem Bereich eingesetzt sind, daran, diese Bilder und Töne nicht zu nah an sich heranzulassen. Alle Fragen sind erlaubt: Was nehme ich mit nach Hause? Wie verändert sich mein Verhalten gegenüber den eigenen Kindern? Muss ich emotional abstumpfen, um die Arbeit machen zu können? Wann ist es zu viel? Und welche Erleichterung können Techniken wie Künstliche Intelligenz (KI) bei der Auswertung des Materials bringen? 

2018: Mehr als 2000 Terabyte beschlagnahmt

Wir sprechen hier von unvorstellbar großen Datenmengen. In Lügde, wo Kinder und Jugendliche in mehreren hundert Fällen auf dem Campingplatz sexuell missbraucht und dabei teilweise gefilmt wurden, waren es schon 14 Terabyte. Im aktuellen Missbrauchsfall Bergisch Gladbach, wo Ermittler auf dem Handy eines Verdächtigen Chat-Gruppen mit bis zu 1800 Mitgliedern fanden, sind es mehr als 30 Terabyte Daten, die aufbereitet, gesichtet und ausgewertet werden müssen. Doch auch das ist nur die Spitze des Eisberges: mehr als 2000 Terabyte sind 2018 bundesweit beschlagnahmt worden. Wir ahnen, dass die nicht erkannten Fälle die Zahlen noch dramatisch ansteigen lassen.

Deutsche und europäische Gesetzgebung verhindert bislang eine wirksame Täterverfolgung und den Schutz der missbrauchten Kinder. In den USA sind Provider und Unternehmen wie Facebook, Twitter und Dropbox verpflichtet, ständig den Datenverkehr auf Missbrauchsdarstellungen von Kindern zu scannen und an eine Meldestelle (NECMEC) zu melden. Dies ist immer noch nicht in Deutschland möglich. Eine Strafverfolgung ist dadurch nicht möglich.

Bis Ende letzten Jahres wurde dieser Ermittlungsbereich – trotz wachsender Fallzahlen und entsprechender Eingaben der damit betrauten Dienststellen – von den Länderpolizeien und Staatsanwaltschaften sowie den politisch Verantwortlichen deutlich vernachlässigt. Die Auswertung eines Terabyte – trotz eingesetzter Spezialsoftware – dauert für einen Beamten circa sieben Monate. Diese Aufgabe ist nicht zu bewältigen. Was kann man tun?

Kann die wesentliche Arbeit von Mensch auf Maschine übertragen werden? 

Die gute Botschaft mitten in allem Elend ist: Es bewegt sich endlich was. In NRW wurde die „Bekämpfung der Kinderpornografie“ zum kriminalistischen Schwerpunktthema erhoben, die Polizeiseelsorge wird als wichtiger Partner in diese Begleitung eingebunden. Kann zusätzlich mit intelligenten technischen Unterstützungsformaten, dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz, die wesentliche Arbeit von Mensch auf Maschine übertragen werden?

Anfang August 2019 gaben NRW-Justizministerium und die Zentral- und Anlaufstelle Cybercrime (ZAC NRW) bei der Staatsanwaltschaft Köln bekannt, dass in Zusammenarbeit mit Microsoft und anderen Partnern ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Bekämpfung von „Kinderpornografie“ mit Einsatz von KI gestartet wurde. Das Ziel ist, „kinderpornografische Bilder schneller zu entdecken und die Täter zur Verantwortung zu ziehen“, hieß es im „Handelsblatt“.

Die Ermittler könnten so deutlich entlastet werden, da sie am Ende gerichtsverwertbares Material gefiltert aufbereitet bekommen und so nur noch einen Bruchteil der vorliegenden Daten selber auswerten müssen. Auch das Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik sucht mit dem Projekt „desCry“ nach ähnlichen Lösungen. Bereits heute kann mit Software anhand eines digitalen Fingerabdrucks bereits bekanntes Material herausgefiltert werden – die Auswerter müssen „nur“ noch die neuen Bild- und Videodateien ansehen.

Rechtliche Fragen erscheinen lösbar

KI soll jetzt auch neue Missbrauchsdarstellungen von Kindern erkennen, bewerten und so den Ermittlern und Auswertern den größten Teil der belastenden Sichtung abnehmen. Auch (Datenschutz-)rechtliche Fragen erscheinen lösbar, indem Trainingsdaten ausschließlich auf Rechnern der Justiz verarbeitet werden. „Emotions- und ermüdungsfrei“, so eine Microsoftsprecherin, könnte die KI dann bestmöglich inkriminiertes Material aus den riesigen Datenmengen herausfiltern. Die erfahrenen LKA-Ermittler aus NRW sind da noch skeptisch.

Die Reduzierung der gewaltigen Datenmengen durch den Einsatz von KI ist absolut notwendig, denn es würde auch eine psychische Entlastung für die eingesetzten Ermittler und Auswerter bedeuten. Aber bis dahin ist noch ein weiter Weg. Die Fehlerquote ist noch zu hoch. In jedem Fall wird am Ende immer ein Mensch das Bild- und Videomaterial sich ansehen und bewerten müssen, das vor Gericht dann die Verurteilung eines Täters ermöglicht. Daher bleibt die professionelle und aufmerksame Begleitung der Menschen, die diese Arbeit übernehmen, eine ständige Aufgabe für die verantwortlichen Polizeibehörden und auch für uns als Polizeiseelsorge.

Dietrich Bredt-Dehnen ist seit neun Jahren leitender Landespolizeipfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland, mit Schwerpunkt im Landeskriminalamt NRW. In seiner Karriere hat er verschiedene Aus- und Fortbildungen in Beratung und Krisenintervention absolviert und unterstützt im Rahmen seiner Arbeit Beschäftigte in der Polizei und ihre Angehörigen. Polizeiseelsorgerinnen und -seelsorger sind weisungsungebunden, unterliegen der Schweigepflicht und haben ein Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht.

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