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Standpunkte Schlecht angestellt? Wie die EU bessere Arbeitsbedingungen auf Plattformen schafft

Laurin Sepoetro, Leiter für Austausch mit Politik und Gesellschaft bei Wolt
Laurin Sepoetro, Leiter für Austausch mit Politik und Gesellschaft bei Wolt Foto: Laurin Sepoetro

Um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, muss Plattformarbeit reguliert werden, schreibt Laurin Sepoetro von Wolt. Die geplante EU-Richtlinie gehe in die richtige Richtung, greife aber zu kurz. Viele Beschäftigte schätzten die Flexibilität der Selbstständigkeit. Daher reiche es nicht, bei Angestelltenverhältnissen anzusetzen.

von Laurin Sepoetro

veröffentlicht am 23.03.2022

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Ausbeutung, prekäre Arbeitsbedingungen, ständiger Druck: Die Vorurteile gegenüber Plattformbetreibern sind so alt wie die Branche selbst. Daher ist es zu begrüßen, dass sich die EU nun der Plattformwirtschaft annimmt. Denn: Technologieunternehmen agieren nicht in rechtsfreien Räumen. Im Gegenteil: Die Branche braucht einen verlässlichen Regulierungsrahmen, der alle Interessen berücksichtigt und fairen Wettbewerb rechtssicher stärkt.

Im Dezember hat die EU-Kommission ihren Richtlinienentwurf zu Plattformarbeit präsentiert. Ziel ist es, Klarheit bei der Unterscheidung zwischen selbstständigen und angestellten Plattformarbeiter:innen zu schaffen und unabhängig von der Einordnung die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das ist sinnvoll, denn eine faire Regulierung ist wichtig für Beschäftigte, Kund:innen und Plattformbetreiber. In der Vergangenheit gab es auch aufgrund unklarer rechtlicher Rahmenbedingungen einen ungleichen Wettbewerb.

Dennoch greift der Grundgedanke des Entwurfs nicht weit genug: Der Vorschlag vermittelt, dass abhängige Beschäftigung automatisch fair sei und eine selbstständige Tätigkeit automatisch unfair. Eine Einordnung aller Selbstständigen als Arbeiternehmer:innen führt jedoch nicht zwingend zu besseren Arbeitsbedingungen, wie zuletzt auch die Ergebnisse der Plattformarbeit-NGO Fairwork gezeigt haben.

Zudem nimmt der Angestellten-Status Beschäftigten Flexibilität. Doch die ist vielen wichtig. So zeigt eine Untersuchung des European Trade Union Institute, dass Plattformarbeit meist nur ein Zuverdienst neben dem Studium oder der Hauptbeschäftigung ist. Das belegen auch unsere Zahlen: In der EU arbeiten die Wolt-Kuriere im Durchschnitt ca. 20 Stunden pro Woche, 43 Prozent davon sogar weniger als 7,5 Stunden. Die Position der Fahrer:innen ist eindeutig: Flexibilität ist ein ausschlaggebender Grund für die Arbeit über Plattformen.

Mit Blick auf den Richtlinienentwurf heißt das: Plattformbetreiber, die faire Arbeitsbedingungen mit Flexibilität verbinden, sollten unterstützt werden. Doch wie könnte das aussehen?

Faire selbstständige Plattformarbeit ermöglichen

Der Mangel an Arbeitskräften trifft viele Branchen, auch die Plattformökonomie. Wer als attraktiver Arbeitgeber überzeugen kann, gewinnt langfristig auch ökonomisch. Doch leider kommt es in Deutschland nicht zu diesem wünschenswerten Wettbewerb um die besten Arbeitsbedingungen. Angestellte Plattformarbeiter:innen dürfen trotz desolater Bedingungen nicht einfach und kurzfristig für eine andere Plattform arbeiten, wenn ihre Gehälter nicht bezahlt werden oder sie keine Schichten zugeteilt bekommen. Ein klarer Nachteil für Betreiber, die sich nach dem Good-Corporate-Citizen-Prinzip mit guten Arbeitsbedingungen dem Wettbewerb stellen wollen. Wären die Plattformarbeiter:innen selbstständig, könnten sie parallel für mehrere Plattformen aktiv sein und frei entscheiden, welche Aufträge sie annehmen. Dadurch würden sie sich auf jene Plattformen fokussieren, die ihnen die besten Konditionen bieten.

Auch wenn es sich viele unserer Kurierpartner:innen in Deutschland wünschen, haben wir uns gegen ein Modell mit selbstständigen Fahrer:innen entschieden. Der Grund: Rechtsunsicherheit für beide Seiten. Auf den anderen Märkten arbeiten wir mit selbstständigen Kurierpartner:innen zusammen, die im Durchschnitt 50 bis 70 Prozent über gesetzlichen Mindestlöhnen oder Marktstandards verdienen und für die wir Haftpflicht- und Unfallversicherung zahlen.

Die Kluft zwischen Selbstständigen und Arbeitnehmer:innen verkleinern

Doch damit nicht genug: Ein Ansatz, der in der EU-Richtlinie mehr Beachtung finden sollte, ist der Zugang zu Arbeitnehmer-ähnlichen Schutzrechten, Sozial- und Versicherungsleistungen für Selbständige. Zunächst sollte es die EU den Plattformbetreibern ermöglichen, freiwillig sinnvolle Schutzmaßnahmen und Versicherungen anzubieten. Andere EU-Staaten zeigen bereits, wie das Modell weitergedacht werden kann: In Estland erhalten selbstständige Plattformbeschäftigte Zugang zu Sozialversicherungsleistungen.

Unterstützenswert ist auch die Einführung des Tarifverhandlungsrechts für (Solo-)Selbstständige, wie es etwa kürzlich in Griechenland durch eine plattformarbeitsspezifische Arbeitsrechtsreform festgeschrieben wurde. Eine Reform, die die Kommission auf EU-Ebene ebenfalls auf den Weg gebracht hat.

Eine weitere Schwachstelle des Richtlinienentwurfs ist, dass Selbständige vom Schutz vor algorithmischem Management, das Arbeitsbedingungen und Informationsrechte der Beschäftigten beeinträchtigt, ausgenommen werden. Dieser regulatorische Denkfehler vergrößert nur die Kluft zwischen Arbeitnehmer:innen und Selbstständigen.

Datenaustausch zwischen Plattformbetreibern und Behörden verankern

Auch der Zugang zu Sozial- und Versicherungsleistungen ist optimierungsbedürftig, schließlich setzt er eine starke Zusammenarbeit zwischen Plattformunternehmen und Aufsichtsbehörden voraus. Hierfür braucht es eine technische Infrastruktur, die einen effizienten Austausch von Daten über Einnahmen, Gewinne und Kosten erlaubt. In Dänemark übermittelt Wolt mit Einwilligung der selbstständigen Kurierpartner:innen entsprechende Informationen direkt an die Steuerbehörden. Das hilft auch gegen Scheinselbstständigkeit. Solche Möglichkeiten brauchen alle EU-Mitgliedstaaten.

Bei aller Euphorie, dass die EU sich endlich dem Thema Plattformarbeit annimmt, sollten wir eines nicht vergessen: Sowohl die Richtlinie als auch gut gemeinte Verbesserungsvorschläge haben keinen Effekt, solange die Kriterien zur Unterscheidung von Selbstständigen und Arbeitnehmer:innen uneindeutig sind. Die Branche braucht klare Kriterien, um Rechtssicherheit für Beschäftigte und Unternehmen zu schaffen. Einheitliche Wettbewerbsbedingungen sind unabdingbar. Anstatt neue, unscharfe Kriterien vorzuschlagen, sollte die Kommission vielmehr auf die erprobte Auslegung des Europäischen Gerichtshofs setzen, der im Fall Yodel einen klaren Kriterienkatalog zur Unterscheidung von angestellten und selbstständigen Plattformarbeiter:innen aufgestellt hat.

Die eingangs genannten Vorurteile gegenüber Plattformbetreibern schaden allen, die wirtschaftlich erfolgreich und sozial fair am Markt agieren wollen. Damit dies ad-acta gelegt werden kann, leistet die Richtlinie der EU einen wertvollen Beitrag. Die EU und Deutschland können hier Vorreiter werden.

Laurin Sepoetro leitet für den finnischen Lieferdienst Wolt den Austausch mit Politik, Industrie und Gesellschaft in Deutschland, Mittel- und Osteuropa. Zuvor hat er viele Jahre in der Plattformwirtschaft und dem EU-Parlament gearbeitet.

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