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Digitalisierung & KI

Standpunkte Krebs: Mit Big Data soziale Folgen lindern

Foto: Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs

Warum die Daten-Skepsis gerade im Bereich Gesundheit und Soziales so groß ist, versteht Mathias Freund von der „Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs“ nicht. Finanzielle und soziale Folgen einer Krebserkrankung sollten erfasst und untersucht werden.

von Mathias Freund

veröffentlicht am 04.06.2019

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In Deutschland erkranken jedes Jahr 15.000 junge Menschen zwischen 18 und 39 Jahren an Krebs. Sie haben glücklicherweise recht gute Heilungsaussichten. Fünf Jahre nach Diagnose sind 86 Prozent der jungen Frauen zwischen 15 und 44 Jahren und 81 Prozent der jungen Männer am Leben. Sie haben jedoch in der Folge finanzielle und soziale Beeinträchtigungen. Zu den Ursachen herrscht in Deutschland eine bedrückende Informationsleere. Vorhandenes Datenmaterial wird nicht zusammengeführt und analysiert. Die jungen Betroffenen wünschen sich ein aufgeschlossenes Interesse an ihrer Lage und bessere Chancen für die Rückkehr in ein normales Leben. Sie werden die Politik an den Fortschritten in diesem Bereich messen.

Finanzielle Absicherung wichtig

Die Erkrankung fällt bei jungen Krebskranken in eine sensible Phase des Lebens. Ausbildung, Etablierung im Beruf, Suche nach einem Partner oder Partnerin. Ein eigenes Geschäft ist gegründet, eine Wohnung oder Haus wurde gekauft, finanzielle Verantwortung und Belastungen wurden übernommen. Die Krankheit und die oft belastende Behandlung haben da langfristige Folgen für die finanzielle und soziale Lage. In einer 2018 veröffentlichten Studie standen bei jungen Krebspatienten in Deutschland Sorgen bei Einkommen und finanzieller Absicherung an erster Stelle in zehn abgefragten Lebensbereichen. Um diese Folgen zu verhindern oder zumindest zu mildern, müssten wir wissen, wie sie zustande kommen. Nur einige Fragen, die sich hierbei stellen:

  • Wie viele der Menschen mit welchen Krebserkrankungen und in welchem Stadium und nach welcher Behandlung kehren nach welcher Zeit in Vollzeit oder Teilzeit und für wie lange in den Beruf zurück?
  • Wie viele Menschen in Lehrberufen oder mit manueller Tätigkeit erkranken und was wird aus ihnen?
  • Wie entwickelt sich ihr Einkommen?
  • Wer verliert seine Arbeit, muss Sozialleistungen in Anspruch nehmen, oder geht in die Erwerbsminderungsrente?
  • Wem gelingt dann noch der Neustart und welche Hilfen sind dabei effektiv?

Die Antwort auf die Fragen ist bedrückend und beschämend: Wir wissen es nicht. Im krassen Gegensatz zu Ländern wie Dänemark, Norwegen und den Niederlanden existieren in Deutschland keine verlässlichen Zahlen zu diesen Fragen.

Vorhandene Daten nutzen

Datenmaterial wäre aber verfügbar. Wir haben ein Krebsregistergesetz und Daten zu Diagnosen, Inzidenzen und Überleben sind bis zu einem gewissen Maß für ganz Deutschland greifbar. Bei Krankenkassen und Krankenversicherungen, der Deutschen Rentenversicherung und den Finanzbehörden existieren enorme Datenpools. Einkommen, Berufstätigkeit, Renten und Bezug von Sozialleistungen werden erfasst. Seit 2007 hat jeder in Deutschland Gemeldete eine Steueridentifikationsnummer.

Es sind alle Voraussetzungen gegeben. Würde man die Möglichkeiten nutzen und die Daten zusammenführen und umfassend analysieren, könnten zumindest einige der wichtigsten Fragen beantwortet werden. Aber es geschieht nicht. Ich nenne das: Künstliche Dummheit.

Big Data für Gesundheit und Soziales

Bei den betroffenen jungen Menschen trifft das auf völliges Unverständnis. Sie wünschen sich ein aufgeschlossenes Interesse an ihrer Lage und bessere Chancen für die Rückkehr in ein normales Leben. Wie soll ohne Zahlenmaterial der Erfolg von Wiedereingliederungs-, Rehabilitations- und Berufsbildungs- oder Förderprogrammen festgemacht werden und eine (Weiter-) Entwicklung solcher Programme stattfinden?

Der Bereich Gesundheit und Soziales ist gegen Big Data Analyse und Künstliche Intelligenz stärker resistent als Gen-Mais gegen Glyphosat. Die Resistenzmechanismen reichen von föderaler Zersplitterung über das Chaos der Systeme mit fehlenden Schnittstellen bis hin zu Datenschutzbedenken, als ob es Pseudonymisierung und Vertrauensstellen nicht gebe. Sollte der wichtigste Resistenzmechanismus jedoch darin liegen, dass das Interesse fehlt oder gar die Angst vor der Transparenz grassiert? Ein Indiz könnte man darin sehen, dass der Datenstrom bei den Abrechnungsdaten recht flüssig ist, während er in anderen Bereichen die Viskosität von Asphalt annimmt.

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz fehlen gegenwärtig bei keiner Festrede und in keiner Talkshow. Mir würden Fortschritte bei der Abschaffung der Künstlichen Dummheit reichen. Man muss es nur wollen.

Mathias Freund ist Vorsitzender des Kuratoriums der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs. Die Stiftung wurde 2014 gegründet und setzt sich für die Verbesserung der Versorgung und für die Forschung zugunsten junger Menschen mit und nach Krebs ein. Freund ist Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, zudem hat er eine Zusatzweiterbildung in Hämostaseologie und Palliativmedizin. Heute wird Freund beim Tag der deutschen Industrie mit Peter Albiez, Vorsitzender der Geschäftsführung von Pfizer Deutschland, zum Thema „Health & Digitalisation“ diskutieren.

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