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Energie & Klima

Standpunkte Die Zahlenschwäche der deutschen Treibhausgasbilanz

Andreas Luczak, Professor für Regenerative Energien an der Fachhochschule Kiel
Andreas Luczak, Professor für Regenerative Energien an der Fachhochschule Kiel

Den Erfolg oder Misserfolg vergangener und zukünftiger Klimapolitik verlässlich zu beurteilen, ist wichtig, aber derzeit nicht möglich, meint Andreas Luczak, Professor für Regenerative Energien an der Fachhochschule Kiel, in seinem Standpunkt. Er schlägt geglättete oder besser noch bereinigte Zahlen vor, die ein beständiges Monitoring ermöglichen – auch für die Wählerinnen und Wähler.

von Andreas Luczak

veröffentlicht am 09.08.2021

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Die für die Wahlentscheidung für viele wichtige Einschätzung, welche Partei am ehesten in der Lage ist, die angekündigten Klimaziele mit möglichst wenig Verzicht und Verlust von Wohlstand zu erreichen, hängt stark davon ab, wie die Bilanz der Klimapolitik der vergangenen Regierungsjahre eingeschätzt wird.

Vorwürfe, die Kanzlerin Angela Merkel hätte in ihrer 16-jährigen Amtszeit klimapolitisch versagt, können mit dem Argument gekontert werden, dass Deutschland seine Treibhausgasemissionen von 1990 bis 2020 um 40 Prozent reduziert, und damit das selbst gesteckte Klimaziel erreicht hat. Darüber hinaus ist diese Reduktion auch deutlich höher als die der EU in diesem Zeitraum. Die vom Umweltbundesamt veröffentliche Menge der jährlichen deutschen Treibhausgasemissionen ist als Kennzahl also von immenser politischer Bedeutung.

Aber auch in der Zukunft wird von dieser Zahl sehr viel abhängen, da Klimamaßnahmen verschärft werden müssen, wenn die Menge an Treibhausgasemissionen nicht stark genug reduziert wird. Von daher sollte man sich durchaus auch einmal die Unzulänglichkeiten dieser Kennzahl bewusst machen:

  • Die offizielle Emissionsmenge wird erst mit einem Jahr Verspätung veröffentlicht, die der EU sogar mit zwei Jahren. Da verabschiedete Klimaschutzmaßnahmen oft erst mit einem gewissen Zeitverzug tatsächlich wirksam werden, wird eine unzureichende Klimapolitik also erst mit erheblichem Zeitverzug sichtbar. Da Bundestagswahlen nur alle vier Jahre stattfinden, verschiebt sich eine Korrekturmöglichkeit durch eine Abwahl bei der Klimapolitik versagender Parteien naturgemäß zusätzlich.

  • Zusätzlich gibt es zwar auch aktuellere Schätzungen verschiedener Institutionen. Vorteilhafte Schätzungen werden dabei gerne als Beweis für eine gute Klimapolitik in der Debatte offensiv verwendet, jedoch unvorteilhafte Schätzungen verschwiegen oder abgewiegelt nach dem Motto: „Das sind ja nur ungenaue Schätzungen, nun lasst uns doch erst einmal die offiziellen Zahlen abwarten.“

  • Die Menge der Emissionen wird sehr stark vom zufälligen Wetter beeinflusst (im Wesentlichen die Ökostrommenge aus Solar- und Windenergie sowie der Heizwärmebedarf). Je nachdem, ob das Wetter die Emissionen gesenkt oder erhöht hat, besteht die Gefahr, dass die verantwortliche Regierung diesen Einfluss entweder verschweigt beziehungsweise herunterspielt oder als Ausrede für steigende Emissionen missbraucht.

  • Die in wenigen Jahren wegfallende Kernenergie „schönt“ die aktuellen Emissionszahlen. Die noch laufenden Kernkraftwerke sind gewissermaßen ein nicht nachhaltiger emissionssenkender „Einmaleffekt“, der Ende 2022 wegfällt. Um diesen Effekt zu kompensieren müsste man fast die Hälfte der gegenwärtig installierten Wind- und Solarenergie zusätzlich ausbauen. Das zukünftig zu senkende Emissionsniveau ist also eigentlich deutlich höher, was aber erst im Laufe der nächsten Legislaturperiode für die Öffentlichkeit sichtbar werden wird.

  • Sonstige konjunkturbedingte Sondereinflüsse wie Finanzkrisen, Corona, vorgezogene oder nach hinten verschobene Heizölkäufe aufgrund von Schwankungen des Ölpreises beeinflussen die Höhe der Emissionen sehr stark.

  • Änderungen der Landnutzung gehen auch in die Emissionszahlen mit ein. Die Quantifizierung ist jedoch so komplex, dass dabei die Gefahr besteht, deren Einfluss tendenziell günstiger „hinzurechnen“, als er ist.

  • Bezugsjahrproblematik: Die zentralen prozentualen Reduktionsziele Deutschlands und der EU beziehen sich meist auf das Jahr 1990. Davon profitiert Deutschland besonders stark aufgrund des Zusammenbruchs der ostdeutschen energieintensiven Industrie Anfang der 90er Jahre. Die damit erreichte prozentuale Reduktion bis 2020 von etwa 40 Prozent ist deutlich höher, als die der EU in diesem Zeitraum und erscheint als Zahl beeindruckend groß. Die restliche notwendige 60-Prozent-Reduktion lässt dies als durchaus machbar erscheinen.

    Ein weniger stark in der Vergangenheit liegendes Bezugsjahr würde die aktuellere Klimapolitik und die Herausforderung für die Zukunft in der prozentualen Veränderung deutlicher sichtbar machen. Nimmt man mit 2005 den Beginn der Kanzlerschaft von Angela Merkel als Bezugsjahr, ergibt sich bis 2019 eine Reduktion um 18 Prozent und damit sogar eine etwas geringere Reduktion, als die EU in diesem Zeitraum erreicht hat. Die damit noch notwendige Reduktion um 82 Prozent in einem kaum längeren Zeitraum zu erzielen, erscheint ohne eine radikale Änderung der bisherigen Klimapolitik nicht annähernd realistisch.

  • Die durch die fossile Stromerzeugung in Deutschland entstehenden Emissionen werden mittlerweile weit stärker durch den europäischen Emissionshandel beeinflusst als durch die deutsche Klimapolitik. Damit verliert die deutsche Emissionsmenge als Kennzahl an Aussagekraft für die Wirksamkeit nationaler Klimaschutzmaßnahmen.

Emissionskennzahl sollte aktuell und möglichst interpretationsfrei sein

Man kann auch eine gewisse Parallele zu Corona ziehen: Da gibt es ja bereits eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit und Validität von Kennzahlen, die darüber entscheiden, ob und welche gegebenenfalls drastischen Maßnahmen ergriffen werden und wie gut diese wirksam sind. Die Krankenhausbelegung wäre zwar die letztlich entscheidende Kenngröße, wird aber erst mit so einem großen zeitlichen Versatz sichtbar, dass man die Infektionszahlen als schnelleres „Vorwarnsystem“ gewählt hat. Nachdem diese aufgrund von „zufälligen“ Einflüssen im Wochenrhythmus stark schwanken, hatte man relativ schnell eine Mittelung in Form der 7-Tage-Inzidenz eingeführt. So ein gleitender Mittelwert über einige Jahre wäre auch eine denkbare Lösung für einige der oben genannten Probleme bei den Treibhausgasemissionszahlen.

Eine andere Parallele ist die Veröffentlichung der Arbeitslosenquote. Hier gibt es die „Saisonbereinigung“, damit typische monatliche Schwankungen nicht die Interpretation der Arbeitslosenzahlen erschweren. So eine „Bereinigung“ könnte man analog bei den Emissionszahlen einführen, indem man zum Beispiel wetterbedingte Abweichungen herausrechnet.

Idealerweise sollte es eine Treibhausgaskennzahl geben, an der man zumindest quartalsaktuell verlässlich ablesen kann, ob die aktuellen Klimaschutzmaßnahmen ausreichen, um die Klimaziele zu erreichen. Sobald die Sektoren Wärme und Straßenverkehr in den europäischen Emissionshandel integriert sind, verliert so eine Kennzahl auf nationaler Ebene an Bedeutung. Umso wichtiger wird dann eine möglichst aktuelle und interpretationsfreie Emissionskennzahl auf EU-Ebene, damit Politik und Gesellschaft eine etwaige Unzulänglichkeit bestehender EU-Klimaschutzmaßnahmen schnell und verlässlich erkennen können.

Andreas Luczak ist seit 2016 Professor für Regenerative Energien an der Fachhochschule Kiel. Zuvor war er mehr als 15 Jahre bei Siemens tätig und führte als Geschäftsführer des europäischen Ablegers eines chinesisch-amerikanischen Unternehmens deren Redox-Flow-Speichertechnik in Europa ein.

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