Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen: Dieses Bonmot schreiben die einen dem Komiker Karl Valentin, die anderen dem Schriftsteller Mark Twain und wieder andere dem Physiker Niels Bohr zu. Doch egal, wer dieses Wort in die Welt gesetzt hat, es ist nur allzu wahr. Aber natürlich ist es unmöglich, auf Prognosen zu verzichten. Denn wer das tut, kann keine Pläne entwickeln, von Strategien ganz zu schweigen. Das gilt für alle Bereiche des Lebens – auch und nicht zuletzt für die Wirtschaft.
Wir brauchen also Prognosen. Als wäre das nicht schon heikel genug, so kommt eine Vorhersage doch nur selten allein. Das führt zu Debatten, manchmal gar zum Streit. Eine aktuelle Diskussion wird – mal mehr, mal weniger erregt – über die Schätzungen des Strombedarfs unseres Landes in den kommenden Jahren und Jahrzehnten geführt. Diese Prognosen sind von elementarer Bedeutung für den Weg zu den Zielen der Energiewende und des Klimaschutzes. Nicht wenige seriöse Diskutanten kritisieren die Bundesregierung: Sie sind der Meinung, dass diese die zukünftigen Bedarfe optimistisch niedrig schätzt und warnen vor einer „Stromlücke“. Medien schreiben gar schon von einer „Stromlüge“.
Ein Unterschätzen der Stromnachfrage wäre in der Tat ein schwerwiegender Fehler. Fairerweise ist festzuhalten: Gerade in diesem Bereich ist die zuverlässige Einschätzung nicht ganz einfach. Effekte aus der heute üblichen Bedarfsweiterentwicklung werden überlagert: Zu erwartende Effizienzsteigerungen der Industrie wirken senkend, die zunehmende Elektrifizierung anderer Sektoren wie Wärme und Verkehr werden dagegen den Strombedarf erhöhen.
Transportkapazitäten für Wasserstoff begrenzt
Ein weiterer nicht zu unterschätzender Einflussfaktor ist die regionale Verteilung der Anlagen zur Wasserstofferzeugung. Die wird sich innerhalb Deutschlands spürbar in der regionalen Lastverteilung niederschlagen. Noch sind die Transportkapazitäten für Wasserstoff begrenzt, darum müsste er dort erzeugt werden, wo er benötigt wird. Das ist beispielsweise in der Nähe großer Chemiestandorte oder Stahlwerke der Fall.
Oder in der Nähe von großen Automobil-Standorten. Hier kommt der Südwesten ins Spiel. Viele Industrien stehen vor einer grundlegenden Transformation. Damit die gelingt, muss die Energiepolitik sicherstellen, dass die Versorgung aller Energieverbraucher auch in den Zwischenschritten gewährleistet ist.
Ich persönlich teile die Ansicht, dass die aktuellen Prognosen der Bundesregierung eher im unteren Bereich des Erwartbaren liegen, und damit auch der errechnete Netzausbaubedarf nur der Mindestbedarf ist.
Für das Gelingen der Energiewende ist es entscheidend, ein politisch realistisches Zielbild für die Energielandschaft in Gänze zu entwickeln. Auf dieser Basis können die Netzbetreiber dann langfristig den Ausbau der Infrastruktur planen. Dieses Zielbild muss die Einflüsse der anderen Sektoren mit abdecken. Solange die Energiebranche dies nicht oder nicht umfassend genug tut, bestehen grundlegende Risiken.
Wir könnten in eine Falle tappen: Heute sind viele Verbraucher von fossilen Brennstoffen abhängig. Klar, hier wird es in Zukunft Effizienzgewinne geben – doch wenn diese zu hoch prognostiziert werden, dann hat das zur Folge, dass nicht so viele Erneuerbaren-Anlagen geplant und gebaut werden, die helfen, den Verbrauch zu decken. Das hätte zur Folge, dass auch der Netzausbaubedarf unterschätzt würde. Und das wäre fatal, da hier Korrekturmöglichkeiten einen sehr hohen zeitlichen Vorlauf brauchen (Genehmigungszeiten liegen aktuell bei 12 bis 15 Jahren).
Netzengpässe müssten dann mit Markteingriffen geheilt werden, die den Stromkunden teuer zu stehen kommen. Oder aber gar mit einer Aufteilung Deutschlands in mehrere Preiszonen – ein Gedanke, den die Europäische Kommission vorantreibt. Das wäre für die Wettbewerbsfähigkeit bestimmter Branchen ein heftiger Schlag: nämlich für die in Gebieten mit hohen Strompreisen.
Darum muss klar sein: Wir dürfen die Gefahr nicht unterschätzen, dass zu optimistische Prognosen und Prämissen im Planungsprozess die erforderliche Infrastruktur für die Energiewelt von morgen und übermorgen heute schon verhindern!
Energiewende vom Ende her denken
Sehen wir dazu Lösungen? Ja. Als folgerichtiger Schritt könnte sich der Systementwicklungsplan der laufenden „dena III-Studie“ herausstellen: In einem breit angelegten Austausch wird das Wissen über mögliche Entwicklungen zusammengetragen und in ein Leitbild gefasst. Diese Vorgehensweise passt zu den sich abzeichnenden Herausforderungen und legt den Grundstein für ein in sich stimmiges Gesamtkonzept. Ergänzend dazu wäre es wünschenswert, wenn wir die Energiewende vom Ende her denken.
Darum hat TransnetBW im vorigen Jahr in der Studie „Stromnetz 2050“ ein Zielbild für ein weitgehend treibhausgasneutrales Energiesystem gezeichnet – wie es bisher absehbar am Ende der Energiewende entstanden sein soll. Dort ist eine weitreichende Elektrifizierung des Wärme- und Transportsektors berücksichtigt. Die Studie zeigt auch sehr deutlich, dass das Stromnetz der Zukunft Maßnahmen erfordert, die über die in den Netzentwicklungsplänen beschriebenen Maßnahmen hinausgehen.
Das wollen wir uns jetzt in einer Folgestudie ansehen. Wir wollen so die gewonnenen Erkenntnisse vertiefen und in detaillierteren Betrachtungen auch die Versorgungssicherheit im Zusammenspiel der unterschiedlichen Energieträger auch im europäischen Kontext untersuchen.
Ich wünsche mir deshalb von der Bundesregierung nicht nur ambitioniertere, sondern auch realistische Vorgaben. Diese müssen ein sektorenübergreifenden Zielbild zeigen, realistische Prämissen zu Grunde legen, um eine passende Planung der erforderlichen Infrastruktur und rasche Umsetzung der Energiewende möglich zu machen.