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Energie & Klima

Standpunkte Fünf Faktoren für eine erfolgreiche Kraftwerksstrategie

Andreas Reichel, Vorsitzender der Geschäftsführungen und Arbeitsdirektor von STEAG und Iqony
Andreas Reichel, Vorsitzender der Geschäftsführungen und Arbeitsdirektor von STEAG und Iqony Foto: Iqony

Der Handlungsdruck, die Kraftwerksstrategie der Bundesregierung konkret zu machen, steigt aus Sicht von Andreas Reichel mit jeder Woche. Bei weiterer Verzögerung drohe Destabilisierung, warnt der Chef von STEAG und Iqony und macht fünf Vorschläge.

von Andreas Reichel

veröffentlicht am 22.05.2024

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Im Koalitionsvertrag der Ampel von 2021 war sie vorgezeichnet, im August 2023 erblickten mit der EU-Kommission abgestimmte Leitplanken das Licht der Welt. Dann folgten das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds, eine Haushaltskrise und im Februar 2024 Eckpunkte eines Konzept 2.0: Die Rede ist von der Kraftwerksstrategie. Jetzt haben wir Mai. Mittlerweile sind also drei weitere Monate verstrichen, ohne dass bisher geklärt wäre, wie der angestrebte Zubau steuerbarer Stromerzeugungsleistung bis zum Jahr 2030 gelingen soll.

Die Kraftwerksstrategie ist für uns und die gesamte Branche zu einer wahren Geduldsprobe und einer Gleichung mit weiterhin vielen Unbekannten geworden. Dennoch fangen STEAG und Iqony an. Wir erbringen an drei unserer Kraftwerksstandorte Vorleistungen, setzen Man- und Womanpower ein, sichern uns Kapazitäten im Anlagenbau und im Gasnetz, melden Wasserstoffbedarfe und führen bauvorbereitende Maßnahmen aus.

Wir gehen in Vorleistung, weil wir wissen, dass wir gebraucht werden, um die Versorgung zu sichern. Wir tun das aber auch im Vertrauen darauf, dass die unternehmerischen Herausforderungen auch auf politischer Seite verstanden werden und am Ende der Kraftwerksstrategie ein Business Case steht. Ohne den kann es keine Investitionen geben. Doch wenn die Rahmenbedingungen realistisch und solide gesetzt werden, kann die Kraftwerksstrategie einen großen Beitrag leisten, um Versorgungssicherheit auch in Zukunft effizient abzusichern, und ein Meilenstein für die Dekarbonisierung des Stromsystems sein.

Dringender Handlungsbedarf

Der Kern der Herausforderung bei der Entwicklung der Kraftwerksstrategie besteht inzwischen darin, dass die Zeit davonläuft. Und zwar in doppeltem Sinne: Zum einen besteht das Risiko, dass der Zubau steuerbarer Leistung nicht in der Geschwindigkeit und in dem Maße gelingt, wie der Ausbau der Erneuerbaren, der mutmaßlich weiter wachsende Strombedarf, der Kohleausstieg und die fortbestehenden Netzengpässe es notwendig machen.

Zum anderen werden diejenigen Anlagen, auf die sich das deutsche Stromsystem heute abstützt – und das sind ganz wesentlich immer älter werdende Steinkohleanlagen, denen nebenbei bemerkt perspektivisch das Personal ausgeht, weil es auch immer älter wird – zunehmend weniger einsatzfähig sein, während die Kosten für deren Vorhaltung steigen. Das betrifft vor allem die Anlagen, die in der Netzreserve für Anforderungen der Netzbetreiber parat gehalten werden müssen.

Es gilt daher im Hier und Jetzt, die Kraftwerksstrategie so rasch wie möglich auf stabile Füße zu stellen: Wir brauchen Rechtssicherheit, also auch beihilferechtliche Bodenhaftung; überall dort, wo es möglich ist, müssen Unwägbarkeiten reduziert, Risiken abgefedert werden. Wie kann das gelingen? Was sind die Erfolgsfaktoren einer erfolgreichen und stabilen Kraftwerksstrategie? Folgende fünf Faktoren sind prioritär:

1. Netzorientiertes Kriterium

Dass der Zubau der Anlagen netzdienlich erfolgen muss, ist Konsens. Dafür ist ein netzorientiertes Kriterium erforderlich. Das kann ein Netzfaktor in den Ausschreibungen sein oder etwa der sogenannte Neubau-Vorschuss, wie er jüngst von seitens eines Übertragungsnetzbetreibers vorgetragen wurde. Letzterer hat unter anderem den Vorzug, dass es sich dabei um den einzigen bislang ausgearbeiteten Mechanismus zur Umsetzung der Netzorientierung handelt, der überhaupt vorliegt.

2. Netzreserve-Standorte

Den heutigen Netzreserve-Standorten, also den Standorten, an denen systemrelevante Altanlagen stehen, muss ein rechtssicherer Weg zum Umbau geebnet werden. Die Umrüstung oder der Neubau von Anlagen an diesen Standorten ist nicht nur Voraussetzung, um den Kohleausstieg auch in der Netzreserve und damit auch tatsächlich und real und nicht nur mit Blick auf den Energy-only-Markt zu vollenden, sondern trägt auch zu niedrigeren Netzentgelten bei.

3. Umrüstung

Statt allein auf den Neubau zu setzten, kann die Umrüstung von Bestandsanlagen auf Gas und später Wasserstoff ein äußert effizientes Mittel sein. Es gilt, Backup-Kraftwerke für die Energiewende zu sichern, die perspektivisch nur wenige Stunden im Jahr laufen. Eine Umrüstung kann helfen, den Investitionsbedarf deutlich zu senken und die steuerbare Leistung schneller als durch den Bau von Neuanlagen zu erhöhen und zu sichern. Die Umrüstung kann einen nicht unerheblichen Beitrag leisten, die Herausforderung der Gleichzeitigkeit von Neubauprojekten zu entschärfen. Anlagenbau- und Fachkräftekapazitäten sind limitiert. Eine solide Strategie muss solche Nadelöhre und Flaschenhälse im Auge haben.

4. Vorhaltung von Leistung

Für die Planungs- und Investitionssicherheit ist von hoher Bedeutung, dass das Anreizregime der Kraftwerksstrategie auf die Vorhaltung von Leistung ausgerichtet wird – und die gegebenenfalls spätere Einführung eines Kapazitätsmechanismus damit synchron ist! Unternehmen können in die Ausschreibung der Leistungsvergütung nur dann gehen, wenn regulatorische Grundsatzentscheidungen alle Unwägbarkeiten hinsichtlich der Verfügbarkeit von Wasserstoff und der erwarteten Umstellungszeitpunkte abfedern.

5. Wasserstoff-Kernnetz

Eine kluge Berücksichtigung des Wasserstoff-Kernnetzes ist von zentraler Bedeutung. Ohne Aussicht auf Wasserstoffversorgung wird es keine H2-ready-Kraftwerke geben. Entscheidend sind eine ausreichende Kapazität und die Kosten des Netzanschlusses. Diese müssen für die Kraftwerke in den verschiedenen Netzebenen vergleichbar sein.

Eine Kraftwerksstrategie, die mehr sein will als ein dilatorischer Formelkompromiss im Sinne einer politischen Brücke bis zur nächsten Bundestagswahl, sollte – ja, muss – diese Aspekte in der einen oder anderen Form berücksichtigen und die aufgeworfenen Fragen adressieren. Dabei steigt der Handlungsdruck von Woche zu Woche, denn die Aufgabe verliert mit fortschreitender Zeit nicht an Komplexität und die politischen Spielräume der Koalitionäre werden mit jedem Tag, den wir näher an den September 2025 heranrücken, immer geringer.

Die Kraftwerksstrategie duldet also keinen weiteren Aufschub, denn alle weiteren Verzögerungen destabilisieren den Pfad, der in Richtung eines dekarbonisierten Stromsystems eingeschlagen werden muss. Wir sind bereit. Wenn man uns lässt.

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