Wenn sich die europäischen Staats- und Regierungschefs diesen Donnerstag und Freitag in Brüssel treffen, müssen sie eine Frage beantworten, die Europa seit Wochen umtreibt: Wie soll die EU auf das neue, 370 Milliarden Dollar schwere Klimaprogramm der USA reagieren? Das Problem ist kompliziert. Zum einen sollte Europa es natürlich begrüßen, wenn die USA nun endlich ernsthaft in den Klimaschutz investieren. Zum anderen befeuert der amerikanische Klimawumms aber die europäische Sorge, industriepolitisch den Anschluss zu verlieren.
Robert Habeck warnte daher schon, man dürfe nicht zuschauen, wie „Europa das ökonomische Genick gebrochen wird“. Tatsächlich sind die Gefahren durch den „Inflation Reduction Act“ (IRA) schwer abzuschätzen. In manchen Bereichen – wie beim Wasserstoff – gibt es zukünftig große Anreize, Produktion in den USA statt in Europa aufzubauen. In anderen – wie bei Elektroautos – malen Lobbyisten die Lage berufsbedingt schwärzer als sie ist.
Wichtiger als die konkreten Auswirkungen des IRA ist das Signal, das er sendet: Nach China steckt nun schon die zweite Wirtschaftsmacht ohne Rücksicht auf Handelspartner viel Geld in die eigene Transformation. Nationale Wettbewerbsfähigkeit first, wirtschaftsliberale Bedenken second.
Das deckt sich mit dem Zeitgeist. Bis vor kurzem galt Industriepolitik als Politik, deren Name nicht genannt werden darf. Heute ist sie überall. Ökonom:innen sind aufgrund neuer empirischer Ergebnisse weniger skeptisch, als sie es lange waren. Politiker:innen finden Klimaschutz und Geopolitik wichtiger als ordnungspolitische Prinzipientreue. Und dann gibt es noch simplen Gruppenzwang: Je mehr Staaten Geld auf den Tisch legen, um Zukunftssektoren bei sich anzusiedeln, desto schwieriger wird es für die anderen, nicht mitzuspielen.
Subventionsverbote auf dem Prüfstand
Europa stellt diese wirtschaftspolitische Zeitenwende vor ein Dilemma. Nicht alle EU-Länder können sich teure Subventionsprogramme leisten und gemeinsame, europäische Industriepolitik gibt es kaum. Damit im Binnenmarkt trotzdem faire Wettbewerbsbedingungen herrschen, sind Programme wie der IRA in der EU daher weitgehend verboten.
Solange niemand Industriepolitik betreiben wollte, fiel das nicht weiter auf. Heute bringt es aber Probleme: Entweder man hält sich im Sinne des Binnenmarkts an das industriepolitische Stillhalteabkommen und riskiert damit, global den Anschluss zu verlieren. Oder man lockert die nationalen Subventionsverbote, beschädigt dabei jedoch den Binnenmarkt. Beides keine guten Optionen.
Die EU muss den IRA zum Anlass nehmen, diese Zwickmühle aufzulösen. Europa braucht Industriepolitik, Europa braucht den Binnenmarkt, also braucht Europa eine Industriepolitik, die im Binnenmarkt funktioniert.
Die Bundesregierung hat ein besonderes Interesse daran mitzuarbeiten. Das hat zunächst wirtschaftliche Gründe. Die deutsche Industrie steht vor immensen Transformationsherausforderungen und stärker im direkten Wettbewerb mit China und den USA. Man ist hierzulande dringend auf massive Investitionen angewiesen.
Gleichzeitig profitiert Deutschland aber wie kaum ein anderes Land vom gemeinsamen Markt. Kurzfristig könnte es vielleicht gelingen, mit nationalen Programmen im globalen Wettbewerb zu bestehen. Sollte der Rest der EU dabei aber unter die Räder geraten, dann fehlen mittelfristig sowohl tschechische Zulieferer als auch italienische Nachfrage. Den IRA kontern und den Binnenmarkt opfern – für Deutschland hieße das, sich den Fuß abzuschneiden, weil der Schuh drückt.
Dazu kommt die Politik. Christian Lindner hat beim jüngsten Besuch des EU-Wirtschaftskommissars auf die Frage nach der Reaktion auf den IRA zwar verkündet, man könne Politik für die Wirtschaft ja auch ohne Geld machen. Die europäische Wahrnehmung der deutschen Praxis ist aber eine andere. Kein Land hat während der Pandemie und in der Energiekrise so große Rettungsschirme für die eigenen Unternehmen aufgespannt wie Deutschland. Mehr als die Hälfte aller staatlichen Beihilfen seit 2019, ging auf das Konto der Bundesrepublik.
Viele Mitgliedsländer haben schon jetzt den Eindruck, dass Deutschland zwar Zurückhaltung predigt, den Wettbewerb in der EU dank der eigenen Finanzkraft aber längst verzerrt. Ohne diese Bedenken auszuräumen, wird man den Rest Europas kaum überzeugen können, neue industriepolitische Spielräume zu öffnen.
Drei Ziele für Bundesregierung und EU
Die Bundesregierung muss daher an einer europäischen Antwort auf die Herausforderungen des IRA mitarbeiten. Diese Antwort sollte drei Ziele verfolgen.
Erstens muss die EU nationale Strategien kurzfristig absichern. Kein Mitglied darf wegen jetzt notwendiger Maßnahmen finanziell in die Bredouille geraten. Dabei gilt das Prinzip so wenig wie nötig. Ziel ist nicht, nationale Politik umfangreich mitzufinanzieren, sondern den Binnenmarkt vor unfairem Wettbewerb zu schützen. Welche Instrumente sich dafür am besten eignen, wird man diskutieren müssen. Klar ist aber, dass es nicht reichen wird, bereits verplante und in anderen Bereichen dringend benötige EU-Töpfe wie die Coronahilfen erneut umzuwidmen. Auch die EU kann jeden Euro nur einmal ausgeben.
Zweitens braucht es so viel gemeinsame europäische Industriepolitik wie möglich. Um mit riesigen Märkten wie China oder den USA Schritt halten zu können, muss die EU da, wo nationale Politiken europäische Vorteile nicht einpreisen, gemeinsam investieren. Das heißt beispielsweise sicherzustellen, dass im sonnigen Süden Europas so viel erneuerbarer Strom produziert wird, dass damit auch die Industrie in Nordeuropa versorgt werden kann. Und dafür zu sorgen, dass Netze gebaut werden, die ihn dann auch dort hinbringen. Dazu braucht es europäisch zuallererst eine Einigung auf konkrete gemeinsame Projekte. Und dann muss man über die Kosten sprechen.
Nicht mehr, sondern klügere Industriepolitik
Und drittens geht es bei Industriepolitik oft mehr um das wie als um das wie viel. Industriepolitik ist kompliziert und die Gefahr, öffentliche Gelder zu verbrennen, real. Bei moderner Industriepolitik sollte die sichtbare Hand des Staates daher mit und nicht gegen die unsichtbare Hand des Marktes arbeiten. Das heißt beispielsweise, dass Förderung den Status nationaler Champions nicht zementieren, sondern neue Herausforderer in den Markt ziehen sollte.
Es bedeutet auch, dass sie klare, wettbewerbsorientierte Vergaberegeln und Evaluationen braucht sowie Exit-Pläne, wenn Projekte nicht funktionieren. Das klingt wenig aufregend, ist aber entscheidend. Am Ende könnte Europa sich gerade über industriepolitische Qualität einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Nicht mehr, aber klügere Industriepolitik als der Rest der Welt wäre dann die europäische Antwort auf den IRA.
Dr. Nils Redeker ist stellvertretender Direktor des
Jacques Delors Centres und verantwortet die Thinktank-Arbeit im Bereich
europäische Wirtschaftspolitik. Er schrieb seine Doktorarbeit zu
makroökonomischen Ungleichgewichten in der Eurozone an der Universität Zürich.
Das an die Hertie School angegliederte Jacques Delors Centre betreibt wissenschaftliche Europaforschung und entwickelt konkrete Vorschläge für die Europapolitik.