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Energie & Klima

Standpunkte Innovation und Flexibilität statt nur staatliche Bestellung per Kraftwerksstrategie

von Bernd Weber, Epico, und Pieter de Pous, E3G
von Bernd Weber, Epico, und Pieter de Pous, E3G Foto: Epico/E3G

Die Kraftwerksstrategie der Bundesregierung weist viele Lücken auf. Ob sie überhaupt umgesetzt werden kann, ist fraglich. Bernd Weber und Pieter de Pous von den Think-Tanks Epico und E3G raten in ihrem Standpunkt zu einer Alternative. Neue EU-Regeln machten es möglich, schnell einen Kapazitätsmarkt einzuführen, der große Flexibilitätspotenziale hebt. So könnte die Versorgungsicherheit effizienter und günstiger gewährleistet werden.

von Bernd Weber und Pieter de Pous

veröffentlicht am 08.02.2024

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Wie viele Industrieländer der G7 und der EU strebt auch Deutschland bis 2035 ein dekarbonisiertes Stromsystem an. Gleichzeitig steigt die Stromnachfrage aufgrund der Elektrifizierung anderer Sektoren.  Wie viele andere Länder muss Deutschland deshalb die Frage beantworten, wie ein System mit einem wachsenden Anteil an volatilen erneuerbaren Energien ausbalanciert werden kann. Das gilt in besonderem Ausmaß für die Winterzeit, in der bei „Dunkelflaute“ nur geringe Mengen erneuerbaren Stroms produziert werden.

Nach dem schleppendem Hin und Her mit der EU-Kommission und zwischen den Ministerien liegt mit der Kraftwerksstrategie nun ein lang erwartetes wichtiges Puzzlestück zur Sicherung der Versorgung vor. Das Ergebnis bleibt aber hinter den Erwartungen und Möglichkeiten Deutschlands zurück.

Minimalkompromiss und Zwischenlösung

Die diese Woche veröffentlichte Strategie setzt dabei im Kern darauf, neue Gaskraftwerkskapazitäten in den Markt zu bringen. Die Regierung plant, bis zu vier separate Auktionen für jeweils bis zu 2,5 Gigawatt durchzuführen und zur Bedingung zu machen, dass diese neuen Kapazitäten bis spätestens 2040 auf Wasserstoff umgestellt werden können. Das ist allerdings immer noch weniger als die Hälfte der ursprünglich geplanten 25 Gigawatt gesicherter und steuerbarer Leistung, die ursprünglich staatlich beschafft werden sollten – wohl auch, weil das Bundesverfassungsgerichtsurteil und die Haushaltskrise in die Quere kamen.

Darüber hinaus soll bis 2028 ein technologieneutraler Kapazitätsmarkt entwickelt und in Betrieb genommen werden. Hier bleiben die Ankündigungen zur Ausgestaltung allerdings noch vager als zur Kraftwerksstrategie selbst, sodass der erzielte Minimalkompromiss insgesamt in der Kategorie „Zwischenlösung“ mit vielen offenen Fragen einzuordnen ist. Kann Deutschland damit wirklich 2030 aus der Kohle aussteigen? Wie wird die Finanzierung sichergestellt? Wird die EU-Kommission die Kraftwerksstrategie beihilferechtlich überhaupt genehmigen?

Der geplante Zweischritt von Kraftwerksstrategie und Kapazitätsmarkt würde zwar vermeiden, dass man beim Thema Versorgungssicherheit alles auf eine Karte setzt. Es bleibt aber die Frage, warum bis 2028 nur der Neubau von H2-Ready-Kraftwerken angereizt werden soll, andere Optionen aber außen vor bleiben. Zumal Wasserstoff ein knapper und teurer Brennstoff ist und das auch zunächst bleiben dürfte.

EU liefert Blaupause für schnellen, technologieoffenen Ansatz

Es lohnt sich ein Blick über den deutschen Tellerrand hinaus, und zwar in Richtung Brüssel. Die kürzlich vereinbarte Reform der EU-Strommarktregeln bietet Deutschland eine Blaupause für einen technologieoffenen und kosteneffizienteren Ansatz zur Nachfragedeckung. Das neue Strommarktdesign sieht erstens vor, dass Kapazitätsmechanismen in den Mitgliedsstaaten neben Kraftwerken auch Flexibilität auf der Nachfrageseite und Speicher umfassen sollen. Auch sollen die Genehmigung und Einführung dieses Instrumentes, das zum Beispiel in Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien und Polen besteht oder erwogen wird, beschleunigt werden können.

Warum also bis 2028 damit warten? Zumal Brüssel den Mitgliedsstaaten auch die Möglichkeit einräumt, den „Flexibilitätsturbo“ einzuschalten. So können „Flexibilitätsanreizregelungen“ als eine Art „Kapazitätsmechanismus light“ für Stromspeicher, flexible Verbraucher und Lastmanagement in der Industrie zügig ohne langwierige Genehmigungsprozess jetzt eingeführt werden. Damit besteht eine schnelle und komplementäre Alternative zum Neubau von Kraftwerken, die dann auch noch einen Brennstoffwechsel benötigen.

Enormes Potenzial für Flexibilität nicht links liegen lassen

Studien wie jene von Smart Energy Europe zeigen, dass sich die Vorteile eines ambitionierten Flexibilitätsansatzes für Bürger, Wirtschaft und Staaten in Europa unter Einbindung von unter anderem E-Autos, Gebäuden und Industrie ab 2030 jährlich auf über 300 Milliarden Euro belaufen könnten. Eine ambitionierte Flexibilitätsstrategie ist ein Schlüssel, um Energiepreise insgesamt, die Kosten für Erzeugungskapazitäten, den Investitionsbedarf für die Netzinfrastruktur, die Kosten für den Netzausgleich und CO2-Emissionen deutlich zu senken. Berechnungen des Beratungshauses Aurora Energy Research kommen zum Schluss, dass die Nutzung von Flexibilitätspotenzialen die Stromkosten für Industrieunternehmen auf sechs Cent pro Kilowattstunde und darunter senken könnte – ganz ohne die Einführung eines Industriestrompreises.

Trotz dieser enormen Vorteile wurde die Schlüsselrolle von Flexibilität und Innovation in der deutschen Debatte über die Kraftwerksstrategie weitgehend vernachlässigt. Das können wir uns mit Blick auf die Herausforderung der kosteneffizienten Bereitstellung von Versorgungssicherheit nicht mehr leisten. Deutschland braucht einen technologieoffenen und flexiblen Ansatz dringender denn je. Die neuen Instrumente auf EU-Ebene jenseits von Kraftwerken sollten dafür voll und zügig ausschöpft werden.

Dr. Bernd Weber ist der Gründer und Geschäftsführer des Think-Tanks Epico KlimaInnovation. Er war bis 2023 zudem Gastprofessor für Europäische Energiepolitik am College of Europe. Davor leitete er den Bereich Industrie beim Wirtschaftsrat. 

Pieter de Pous ist der Programmleiter für den Übergang von fossilen Brennstoffen bei dem Think-Tank E3G. Davor war er Policy Director des European Environmental Bureau.

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