Angesichts der überwältigenden Größe des Energieproblems ist es eine gefährliche Vorstellung, Erneuerbare und Fusion als „konkurrierende Alternativen“ aufzufassen. Heute wird der weltweite Energiebedarf zu mehr als drei Vierteln durch fossile Brennstoffe – Erdöl, Erdgas und Kohle – gedeckt. In den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern Asiens ist Kohle der wichtigste Energieträger. Die globale Energieversorgung klimagerecht umzubauen und eine wachsende Weltbevölkerung zuverlässig mit umweltfreundlicher Energie zu versorgen, ist eine so gewaltige Aufgabe, dass Konkurrenzdenken nur hinderlich sein kann. Stattdessen sollten alle klima- und umweltfreundlichen Möglichkeiten erforscht und erprobt werden.
Die Fusionsforschung jedenfalls sieht sich nicht in dieser Konkurrenz. Ihr Ziel ist es, zusammen mit den erneuerbaren Energien die Weltenergieversorgung für künftige Jahrtausende sicherzustellen. Zugegeben: Es ist eine große Herausforderung, die Energiequelle von Sonne und Sternen auf der Erde nachzubauen. In einem hundert Millionen Grad heißen Plasma – einem ultradünnen, ionisierten Gas – müssen dauerhaft Fusionsreaktionen ablaufen können. Mit dem internationalen Experimentalreaktor ITER, der zurzeit aufgebaut wird, steht man jedoch unmittelbar vor der Demonstration eines Energie liefernden Plasmas.
Der Experimentalreaktor, an dem Forscher aus der ganzen Welt arbeiten, soll eine Fusionsleistung von 500 Megawatt liefern – zehnmal mehr, als zum Aufheizen in das Plasma eingebracht wird. Auf ITER soll dann eine Demonstrationsanlage folgen, die alle Funktionen eines Kraftwerks erfüllt. Geht alles nach Plan, könnten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die ersten Fusionskraftwerke wirtschaftlich nutzbare Energie liefern.
Unfallauswirkungen auf das Kraftwerksgelände beschränkt
Der Grund für diese große Ausdauer: Der Fusion stünde ein nach menschlichen Maßstäben unerschöpflicher Brennstoffvorrat zur Verfügung. Die Grundstoffe – Deuterium und Lithium, aus dem im Kraftwerk Tritium hergestellt wird – sind in großen Mengen überall auf der Welt vorhanden. Ein Gramm Fusionsbrennstoff könnte soviel Energie freisetzen wie elf Tonnen Kohle. Klimaschädliche Stoffe würden nicht freigesetzt, der Landverbrauch für ein Kraftwerk wäre sehr gering. Nach allem, was wir heute wissen, wird die Kernfusion eine katastrophenfreie Technik sein; bei einem Unfall blieben die Auswirkungen auf das Kraftwerksgelände beschränkt. Langlebiger, über Jahrtausende strahlender radioaktiver Abfall fiele nicht an. Den Brennstoffbestandteil Tritium oder die bei der Fusion freiwerdenden Neutronen für militärische Zwecke zu missbrauchen, wäre nur theoretisch möglich.
Praktisch wird sich das Abzweigen auch kleiner Mengen von Tritium oder Neutronen aus einem künftigen Kraftwerk verbieten, weil ansonsten zu wenig Brennstoff vorhanden wäre. Die Herstellung von Tritium oder von Neutronen ist mit anderer Technologie wesentlich einfacher möglich. Und: Das Speicherproblem der fluktuierenden erneuerbaren Energiequellen könnten Fusionskraftwerke bedeutend entschärfen.
Unsere Aufgabe als Wissenschaftler sehe ich darin, die sachliche Basis zur Verfügung stellen, die es der Gesellschaft – oder besser den unterschiedlichen Gesellschaften weltweit – erlauben werden, sich unter den zur Zeit der Entscheidung herrschenden Umständen für oder gegen Fusionskraftwerke auszusprechen. Denn man muss auch zugeben: Wir wissen heute nicht, wie gut eine Hundert-Prozent-Versorgung mit erneuerbaren Energien funktionieren wird.
Wachsender Verbrauch und Mega-Cities könnten neue Antworten benötigen
Wenn, wie prognostiziert, im Jahr 2100 etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden – viele mit mehreren Millionen Einwohnern – und der Verbrauch an Elektro-Energie auf das Sechsfache zunehmen wird, wird dies eine wahrhaft gigantische Aufgabe. Weltweiter Wohlstand bei der Hälfte des heutigen Weltenergieverbrauchs mag vorstellbar sein, entspricht aber nicht den Vorhersagen der Experten.
Wie ökonomisch ein Fusionskraftwerk arbeiten kann, wissen wir zugegebenermaßen noch nicht. Dies gilt jedoch auch für die regenerativen Energien: Die Energiespeicher, die zur Verfügung stehen müssen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, erhöhen den Preis und verringern den „Erntefaktor“ der Erneuerbaren.
Trotzdem bin ich sicher, dass erneuerbare Energien einen sehr großen Teil der künftigen Energieversorgung übernehmen werden. Es ist jedoch fraglich – auch angesichts des bereits heute sichtbaren Widerstandes gegen den hohen Landverbrauch für neue Wind- oder Solaranlagen und Überlandleitungen – ob man sich ausschließlich auf sie verlassen sollte. Will man in Zukunft nicht nur auf Kernspaltung, sondern auch auf alle fossilen Energieträger verzichten, dann ist die Kernfusion die einzig mögliche Ergänzung zu den Erneuerbaren. Wir forschen dafür, dass diese Alternative zur Verfügung steht, wenn sie gebraucht wird.
Der Standpunkt von Ernst Ulrich von Weizsäcker mit der Überschrift „Energiesicherheit durch Kernfusion ist eine Illusion“ ist hier zu finden.
Sibylle Günter ist die Wissenschaftliche Direktorin des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Garching und Greifswald, einem der großen Zentren für Fusionsforschung in Europa. Als Honorarprofessorin unterrichtet sie an der Technischen Universität München.