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Energie & Klima

Standpunkte Kraftwerksstrategie – Lackmustest einer sicherheitsorientierten Energiepolitik

Jonathan Barth, Sprecher beim Fachrat Energieunabhängigkeit und Politischer Direktor am ZOE Institut für zukunftsfähige Ökonomien
Jonathan Barth, Sprecher beim Fachrat Energieunabhängigkeit und Politischer Direktor am ZOE Institut für zukunftsfähige Ökonomien

Im politischen Geschäft gibt es immer wieder Momente, in denen sich zeigt, wie die Regierung aktuelle Entwicklungen interpretiert. Die Kraftwerksstrategie ist für Jonathan Barth so ein Moment: Anhand der Strategie wird sich zeigen, ob die neue geopolitische Realität sich auch energiepolitisch niederschlägt, erklärt der Sprecher des Fachrats Energieunabhängigkeit in seinem Standpunkt. Der Indikator: Gaskraftwerke.

von Jonathan Barth

veröffentlicht am 26.01.2024

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Bisher stand der Ausbau der Flüssigerdgas-Terminals im Zentrum der Strategie für Versorgungssicherheit. Das war kurzfristig nötig, um die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der russischen Gasverknappung zu reduzieren. Allerdings gingen diese Erfolge auf Kosten neuer Abhängigkeiten. Die LNG-Importe nach Europa haben sich in den letzten zwei Jahren verdoppelt – Europa ist inzwischen zu 40 Prozent von ihnen abhängig.

Zwar ist es dadurch gelungen, Deutschland von russischem Erdgas zu lösen. Trotzdem sind auch diese neuen Abhängigkeiten riskant. Aktuelle Brandherde – ob der russische Angriffskrieg, die Lage im Nahen Osten, oder die sicherheitspolitische Lage in Taiwan – markieren den Übergang in eine Zeit des „Unfriedens“, wie sie Mark Leonard vom European Council on Foreign Relations nennt. Das Ergebnis von Unfrieden ist Instabilität, Unsicherheit, Fragilität. Deutschland kann sich nicht darauf verlassen, dass Erdgas in Zukunft stabil und günstig zur Verfügung steht. Weder garantieren die Beziehungen mit den USA Verlässlichkeit. Noch ist sichergestellt, dass es nicht zu Lieferengpässen kommt – wir sehen es an den Angriffen der Huthis im Roten Meer. Die Abhängigkeit der Preise hat sich lediglich von Russland auf globale Kontexte verlagert.

Verlagerung der Abhängigkeiten bildet sich am Gasmarkt noch nicht ab

Doch eben diese Risiken bilden die Gas-Spotmärkte nicht ab: Die sicherheitspolitische Externalität wird nicht eingepreist. Seit der Energiekrise hat diese Externalität ein Preisschild: 264 Milliarden Euro. Das war die Kreditsumme, die der Bund für die Entlastungspakete aufnehmen musste. Nicht eingepreist war jedoch die Wirtschaftsleistung, die allein für 2022 um insgesamt 160 Mrd. Euro niedriger ausfiel als erwartet. 

Im Angesicht dieser sicherheitspolitischen Externalitäten ist es verwunderlich, wie wenig Aufmerksamkeit die Alternative zu neuen Abhängigkeiten bekommt: die nachfrageseitige Reduktion der Erdgasnutzung. Sie steht im Mittelpunkt der Finanzierungsstrategie, die der Fachrat Energieunabhängigkeit am Dienstag vorstellte. Demnach kann Deutschland seine Abhängigkeiten von Erdgas um fast 80 Prozent reduzieren, wenn Unternehmen und Bürger:innen Wärme zukünftig mit Strom statt mit Erdgas erzeugen. Tagesspiegel Background berichtete.

Preisschild dafür: 526 Mrd. Euro bis 2045. Das erscheint viel. Und doch rückt die Zahl in ein anderes Licht, wenn man die Kosten der Energiekrise gegenüberstellt – 440 Mrd. Euro an neuen Krediten und geringerer Wirtschaftsleistung. Es führt in die Irre, wenn Kostenvergleiche angestellt werden, die langfristige Einsparungen und sicherheitspolitische Externalitäten außen vorlassen. 

Finanzierung der Erdgasunabhängigkeit kommt der Wirtschaft zugute

Und dabei haben wir weder von den Umweltexternalitäten gesprochen noch davon, dass die 526 Mrd. Euro vor allem der heimischen Wirtschaft zugutekommen: europäischen oder deutschen Wärmepumpenherstellern (deren Innovationen übrigens mit Abstand global führend sind), dem Maschinen- und Anlagenbau, der in der Industrie im großen Maßstab erdgasbasierte Öfen durch Elektrokessel oder Großwärmepumpen ersetzt, oder dem Handwerk und Tiefbau. Allein in der Industrie lässt sich der Erdgasbedarf mit nur zehn Mrd. Euro an Investitionen halbieren. 

Die Technologien sind da – und in vielen Prozessen bereits wettbewerbsfähig. Das zeigen Unternehmen wie HeinzGlas, Currenta oder Kabelpaper. Es gibt Alternativen zur Diversifizierung der Importstruktur, man muss sie nur skalieren. 

Der berechtigte Einwand: all die Wärme wird mit Strom produziert. Genau hier kommt die Kraftwerksstrategie ins Spiel. Es wäre wenig gewonnen, würde sich der Gasverbrauch vom Gebäude- und Industriesektor durch neue Gaskraftwerke in den Stromsektor verlagern. Zwar hat der Fachrat die Stromerzeugung in seiner Analyse ausgeklammert, doch lassen sich mit dem Ziel einer sicherheitsorientierten Energiepolitik einige Schlüsse ziehen.

Versteht die Bundesregierung die Dringlichkeit der Minimierung globaler Energieabhängigkeit?

Auch die Kraftwerksstrategie wird vor der Frage zu bewerten sein, was Deutschland bereit ist, für Resilienz, Unabhängigkeit und Sicherheit zu zahlen. Schon jetzt sind die Diskussionslinien vorhersehbar. Einige werden den Geist der Atomkraftwerke beschwören, andere die Vor- und Nachteile von wärme- oder stromgeführter KWK, von Batterie-, Wasserstoff- oder Wärmespeichern, von Regelenergie-, Kapazitäts- und Strommarktdesign diskutieren. Als Zieldimensionen werden Kosteneffizienz, Bezahlbarkeit, Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit im Mittelpunkt stehen.

Doch gleichzeitig sollte die Debatte die sicherheitspolitische Externalität nicht vergessen. Drei Punkte sind entscheidend:

1.Sieht die Strategie Gaskraftwerke nur als Ausfallversicherung für ein erneuerbares Stromsystem und setzt sie in zwei bis drei Wochen an Dunkelflauten im Jahr ein, oder betrachtet sie Kraftwerke im Falle von Kraft-Wärme-Kopplung als Grundlast für Wärmenetze, die dauerhaft Strom produzieren?

2.In welcher Geschwindigkeit ist der Wechsel von Erdgas auf Wasserstoff geplant und welche technischen und regulatorischen Vorbereitungen werden getroffen, damit sich dieser Wechsel tatsächlich vollzieht?

3.Sichert die Kraftwerksstrategie angebotsseitig die Deckung der Nachfrage über eine stärkere Integration des europäischen Strombinnenmarktes oder über hohe Reservekapazitäten? Und welche Kapazitäten an nachfrageseitiger Flexibilität werden angesetzt?

Diese Punkte sind der Lackmustest einer sicherheitsorientierten Energiepolitik. An ihnen zeigt sich, wie viel Erdgas beziehungsweise Wasserstoff Deutschland abseits von sicheren Partnern wie Norwegen importieren muss und in welche Abhängigkeiten sich Wirtschaft und Gesellschaft damit begeben. 

Die Energiekrise sollte ein Weckruf sein, das Thema nicht allein aus der Perspektive kurzfristiger Kosteneffizienz zu betrachten, ohne die sicherheitspolitischen Externalitäten mit einzukalkulieren; ein Weckruf, dass die Notwendigkeit von Erdgas- und Wasserstoffimporten abseits europäischer Partner minimiert und Einsparpotenziale maximiert werden müssen. 

Jonathan Barth ist Sprecher beim Fachrat Energieunabhängigkeit und Politischer Direktor am ZOE Institut für zukunftsfähige Ökonomien. Der Fachrat ist ein interdisziplinäres Gremium aus acht Expert:innen der Finanzwirtschaft, Wirtschaftspolitik und Technikwissenschaften. Als Reaktion auf die neue geopolitische Realität hat der Fachrat im Austausch mit zahlreichen Vertreter:innen der Bundesregierung, Industrieverbänden und der Zivilgesellschaft eine Investitionsstrategie für die Erdgasunabhängigkeit von Deutschland mit Fokus auf die Sektoren Gebäude und Industrie entwickelt. Der Fachrat wird vom ZOE koordiniert und vom Climate Finance Fund finanziert.  


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