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Energie & Klima

Standpunkte Tempolimit 120: Warum es mehr bringt als gedacht

Markus Friedrich, Professor für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik, Universität Stuttgart
Markus Friedrich, Professor für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik, Universität Stuttgart Foto: Universität Stuttgart

Das Umweltbundesamt hat die Abschätzung der Wirkung eines Tempolimits durch eine neue Studie ermittelt und deutlich nach oben gesetzt. Die FDP griff die Ergebnisse mittels einer eigenen Studie an. Diese sei aber klar fehlerhaft, monieren Markus Friedrich von der Universität Stuttgart und UBA-Präsident Dirk Messner in ihrem Standpunkt. Eine deutliche Wirkung lasse sich mit modernen, aber bereits etablierten Methoden gut nachweisen.

von Markus Friedrich

veröffentlicht am 10.03.2023

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Ein Gutachten für die FDP hat jüngst die für das Umweltbundesamt (UBA) berechnete Klimaschutzwirkung des Tempolimits von 120 Kilometern pro Stunde infrage gestellt. Statt jährlich rund 6,7 Millionen Tonnen weniger Treibhausgasemissionen durch Tempo 120 vermutet das Gutachten für die FDP maximal 1,1 Millionen Tonnen Einsparung.

Die 6,7 Millionen Tonnen aus der UBA-Studie sind in der Tat höher als in älteren Studien. Aber dafür gibt es gute Gründe. Die neue Studie nutzt nämlich für die Verkehrszustände im Straßennetz empirisch bessere Werte. Außerdem wurden erstmals „Routenwahleffekte“ berücksichtigt, also der Effekt, dass Menschen bei einem Autobahn-Tempolimit auf alternative, zum Teil kürzere Routen ausweichen. Auch sind „Nachfrageeffekte“ neu erfasst, wenn Menschen auf andere Verkehrsmittel als das Auto ausweichen. Beides spart CO2, wurde bislang aber in der Modellierung ausgespart.

Wie sich FDP- und UBA-Studie unterscheiden

Das Gutachten für die FDP unterzieht die UBA-Studie nach eigener Angabe einer „Plausibilitätskontrolle“ anhand dreier Parameter: So wird dort erstens angenommen, dass auf 55 Prozent der Autobahnen aktuell ohne Tempolimit gefahren werden kann, zweitens rund 38 Prozent der Fahrten auf diesen Abschnitten bei über 130 km/h stattfinden und drittens die Treibhausgasemissionen dieser schnellen Fahrzeuge bei einem Tempolimit von 120 km/h um 13,3 Prozent sinken. Die einfache Kombination dieser drei Faktoren führt zu einem fehlerhaften Ergebnis. Zudem sind zwei der verwendeten Werte schlicht falsch.

Schon die Herleitung der von einem Tempolimit betroffenen Fahrleistungen ist im FDP-Gutachten nicht korrekt. Laut aktueller empirischer Daten in der UBA-Studie finden nicht nur 55 Prozent der Autobahn-Fahrleistung von Pkw auf Abschnitten ohne Tempolimit statt, sondern sogar 65 Prozent. Hinzu kommt, dass das FDP-Gutachten Pkw-Fahrleistungen und CO2-Einsparpotenziale völlig unterschlägt, die auf Abschnitten stattfinden, wo heute schon ein Tempolimit von 130 km/h gilt. Auch diese Streckenabschnitte wären von einem Tempolimit von 120 km/h betroffen und gehören in die Berechnung – und geben so ein realistischeres Bild der Einsparpotenziale.

Zum anderen verwenden die FDP-Gutachter, die sich bei ihrer „Potenzialanalyse“ nur auf Pkw beziehen, Emissionsfaktoren, die auch Daten für Lkw enthalten. Da ein Tempolimit von 120 km/h aber keinen beziehungsweise nur minimalen Einfluss auf die Emissionen der Lkw hat (diese fahren ohnehin schon deutlich langsamer), sind die vom FDP-Gutachten angenommenen 13,3 Prozent Minderung deutlich zu niedrig angesetzt. Im flüssigen Verkehr etwa sind die Emissionsfaktoren für Pkw auf Autobahnen mit Tempo 120 nach der UBA-Studie daher zum Beispiel um 21,2 Prozent geringer als ohne Tempolimit.

Die UBA-Datenquellen und das methodische Vorgehen

Das UBA-Gutachten nutzt primär drei Datenquellen: Erstens Floating Car Data (FCD) des Anbieters TomTom, also Daten, die „live“ und real beim Fahren gewonnen werden, aber auch das Stehen im Stau erfassen. Zweitens das Modell PTV-Validate, das an Zählstellendaten validierte Verkehrsstärken für Autobahnen liefert. Drittens das Handbuch für Emissionsfaktoren des Straßenverkehrs (HBEFA), was Emissionsdaten für unterschiedliche Verkehrssituationen bereitstellt. Diese basieren auf Messdaten von über 6000 Fahrzeugen.

Mit den FCD bestimmt die UBA-Studie den Anteil der Pkw-Fahrleistung im flüssigen, dichten, gesättigten Verkehr sowie beim stop and go („Verkehrszustände“). Kombiniert mit Straßentyp und der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ergeben sich daraus die HBEFA-Verkehrssituationen. Für jede dieser Verkehrssituationen kann aus dem HBEFA ein Emissionsfaktor für CO2-Äquivalente ausgelesen werden. Senkt man die Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h, führt das, egal ob der Verkehr flüssig, dicht oder gesättigt ist, zu geringeren Emissionen. Rund 98 Prozent der Pkw-Fahrleistung auf Autobahnabschnitten ohne Tempolimit finden in einem dieser Verkehrszustände statt und sind damit direkt vom Tempolimit betroffen.

Die größte Wirkung hat ein Tempolimit von 120 km/h bei flüssigem Verkehr: Die Treibhausgasemissionen sinken um 21,2 Prozent. Bei gesättigtem Verkehr sind es 6,2 Prozent weniger, obwohl dort im Mittel langsamer als 120 km/h gefahren wird. Das liegt daran, dass die HBEFA-Verkehrssituationen ein durchschnittliches Fahrverhalten abbilden, mit unterschiedlichen Fahrgeschwindigkeiten, Brems- und Beschleunigungsvorgängen.

Manche Fahrzeuge fahren auch im gesättigten Verkehr schneller als 120 km/h, ein Großteil des Verkehrs bewegt sich langsamer. Die Einsparung ergibt sich nicht nur aus der geringen Geschwindigkeit der Autos, die ursprünglich schneller als 120 km/h fuhren – durch die Verwendung der HBEFA-Emissionsfaktoren wird auch das veränderte Fahrverhalten berücksichtigt, das sich für das gesamte Fahrzeugkollektiv einstellt.

Denn: Bei einem Tempolimit fließt der Verkehr gleichmäßiger, Brems- und Beschleunigungsvorgänge werden reduziert. Alles in allem führt das insgesamt über alle Verkehrssituationen zu 10,5 Prozent weniger CO2 durch den Pkw-Verkehr auf Autobahnen – und nicht lediglich zu 2,8 Prozent weniger, wie in der Studie für die FDP.

Warum „Routenwahleffekt“ und „Nachfrageeffekt“ wichtig sind

Das FDP-Gutachten kritisiert die UBA-Berechnungen zum „Routenwahleffekt“ als nicht plausibel und „wissenschaftliches Neuland“. Routenwahleffekte abzubilden ist aber seit langem Standard in der Verkehrsmodellierung. Die Methode kommt in vielen Untersuchungen zum Einsatz. Sie ist etwa ein normaler Bestandteil der Bundesverkehrswegeplanung.

Auch die Modellierung des „Nachfrageeffekts“ ist kein wissenschaftliches Neuland. Tempolimits erhöhen die Reisezeit, was die Menschen zum Umstieg auf andere Verkehrsmittel oder gar zum Verzicht auf einen Teil der Fahrten bewegt. Um dies abzubilden, wurde ein Elastizitätenmodell eingesetzt, da für Deutschland kein Modell zur Verfügung steht, das unterschiedliche Verkehrsmitteloptionen gegenüberstellt.

Dieser Ansatz wird im FDP-Gutachten als „wissenschaftlich unseriöse Vereinfachung“ bezeichnet – ohne dass eine Alternative vorgeschlagen wird. Elastizitätenmodelle werden in der Verkehrsmodellierung immer dann eingesetzt, wenn es kein Verkehrsmittelwahlmodell gibt, um diese Nachfrageänderung zu bestimmen. Auch das ist üblicher und durch und durch robuster Standard.

Die Studie für das UBA leitet durch Routen- und Nachfrageeffekte rund zwei Millionen Tonnen CO2-Einsparung ab. Dieser Effekt wurde in früheren Studien nicht berücksichtigt, da die Betrachtung nicht im Mittelpunkt stand und modelltechnisch in der Tat aufwendiger ist – beide Effekte gehören aber dazu, um ein vollständiges Bild der Einsparungen zu bekommen.

Die Einsparungen sind keine Kleinigkeit

Es gibt wohl kaum eine Debatte beim Klimaschutz, die emotionaler und hitziger geführt wird, als die ums Tempolimit. Und ja, die Einsparungen durch ein Tempolimit können nicht das immense Klimaschutzproblem des Verkehrssektors alleine lösen. Sie sind aber eben auch keine Kleinigkeit. Wenn ein Tempolimit politisch-gesellschaftlich keine Akzeptanz findet, müssten die Emissionen anders gemindert werden. Tempo 120 auf Bundesautobahnen und Tempo 80 auf Außerortsstraßen könnte von 2024 bis 2030 insgesamt rund 47 Millionen Tonnen CO2 sparen – das ist immerhin ein Sechstel der 271 Millionen Tonnen, um die die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor bis 2030 laut Klimaschutzgesetz sinken müssen.

Entscheidet sich die Politik gegen Tempo 120 auf Autobahnen, muss sie andere Lösungen finden, um die aktuelle Lücke zu stopfen. Das wird nicht einfach. Um die gleiche Treibhausgasminderung zu schaffen, wären zum Beispiel rund drei Millionen mehr reine Elektrofahrzeuge auf der Straße nötig als heute. Förderte man deren Kauf wie beim Umweltbonus, würde das den Staat mehr als 13 Milliarden Euro kosten. Ein Tempolimit ist da deutlich günstiger zu haben.

Die CO2-Vermeidungskosten standen nicht im Zentrum der Studie für das UBA. Die Summen im FDP-Gutachten zu den Vermeidungskosten des Tempolimits sind aber tendenziell deutlich zu hoch. Üblicherweise – so auch beim Bundesverkehrswegeplan – werden Kosten für Zeitverluste angesetzt, die weniger als halb so hoch sind wie im FDP-Gutachten.

Und schließlich: Wenn man Kosten und Nutzen des Tempolimits gegenüberstellen möchte, sollte man das auch vollständig tun. Und nicht wie im FDP-Gutachten vergessen, dass ein Tempolimit neben weniger CO2 auch für weniger Feinstaub, Stickoxide und Lärm sorgt – und die Straßen endlich sicherer macht.

Prof. Dr. Markus Friedrich hat den Lehrstuhl für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik an der Universität Stuttgart inne. Prof. Dr. Dirk Messner ist Präsident des Umweltbundesamtes.

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