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Energie & Klima

Standpunkte Veraltete Regulierung gefährdet Energiewende, Versorgungssicherheit und Green Deal

Hans Ulrich Buhl und Martin Weibelzahl, FIM/FIT
Hans Ulrich Buhl und Martin Weibelzahl, FIM/FIT Foto: Timo Grüneke / FIM

Hans Ulrich Buhl und Martin Weibelzahl vom Forschungsinstitut FIM und Fraunhofer FIT gehen scharf mit der Stromnetzregulierung ins Gericht. Die Fehlanreize insbesondere bei der Flexibilität seien enorm. Das treibe Kosten und Emissionen nach oben und gefährde die Versorgungssicherheit. Bundesregierung und Bundesnetzagentur müssten schleunigst handeln, schreiben die beiden Wissenschaftler und Stromnetzexperten. Grundlage für kluge Regulierung seien unter anderem die Ergebnisse aus Reallaboren.

von Hans Ulrich Buhl und Martin Weibelzahl

veröffentlicht am 22.11.2023

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Dass die „Fortschrittskoalition“ und die BNetzA zwar den Willen, aber offenbar noch nicht die Kraft und den Mut aufgebracht haben, die überkommene Regulierung an die volatile, erneuerbare Strom­versorgung anzupassen und Energieflexibilität zu fördern, statt diese zu hemmen, ist lange bekannt. Es bleibt dennoch ein immer dringlicher wer­dendes Ärgernis, dessen Beseitigung nur Vorteile hat und keinerlei Kosten mit sich bringt. Vor dem Hintergrund des BVerfG-Urteils und der Finanzierungsprobleme des KTF ist diese Regulierungslähmung noch weniger nachvollziehbar als vorher. Sie steht dem Gelingen der Energiewende im Wege und gefährdet die Versorgungs­sicherheit sowie den Green Deal.

Um weiteren Schaden für den Wirtschaftsstandort abzuwenden, muss eine zielorientierte Anpassung der Regulierung sofort angekündigt und im Jahr 2024 in Zusammenarbeit mit Forschung und Industrie gut und verlässlich gelingen, um Innovation und industrielle Flexibilitätsinvestitionen auszulösen. Bei unterschied­li­chen Auffassungen hinsichtlich der zukünftigen Regulatorik muss mithilfe des Reallabor-Gesetzes regulatorisches Lernen laut Koalitions­vertrag erfol­gen.

Für eine rasche Um­setzung stehen bundesweit unsere Industriepartner in regionalen Netzwerken in den Startlöchern. Deutschland hat die Fähigkeit, statt mit überkomme­ner Regulierung die Energiewende auszubremsen künftig als euro­päi­sches Vor­bild die großen Themen des Strommarktdesigns wie lokale Prei­se anzugehen. Zuvor müssen jedoch schnellstmöglich die regulatorischen Hausaufgaben erledigt werden.

Industrielles Potenzial für Flexibilität ist enorm

Für das Gelingen der Energiewende bei Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutsch­lands ist zum Ausgleich der volatilen erneuerbaren Einspeisung entscheidend, die dringend benötigte industrielle Energieflexibilität zu heben. Darüber besteht Einigkeit. Laut BNetzA ist für die Versorgungssicherheit von zentraler Bedeutung, dass industrielle Prozesse und Quer­schnittstechnologien bis 2031 mindestens acht Gigawatt Flexibilität als drosselbare Leistung bereit­stellen.

Das Potenzial ist enorm. Dies zeigen die mit mehr als 80 Projektpartnern aus Industrie, Wissenschaft und Gesellschaft erzielten Ergebnisse des seit 2016 durch das BMBF mit über 100 Millionen Euro geförderten Kopernikus-Projektes SynErgie (Synchronisierte und energieadaptive Produktionstechnik zur flexiblen Ausrichtung von Industrieprozessen auf eine fluktuierende Energie­versorgung): Flexible Industrieprozesse können bis zu 93,8 Terawattstunden flexible Energie pro Jahr und bis zu 19,7 Gigawatt flexible Leistung bereitstellen, damit die Volatilität von Wind und Sonne im Stromsystem aus­gleichen helfen und zugleich die industrielle Wettbewerbsfähigkeit verbessern.

Neben der Wissenschaft hat die Industrie längst die Vorteile der Vermarktung ihrer Energieflexibilität erkannt, lassen sich damit doch nicht nur CO2-Emissionen, sondern auch Strom­beschaffungskosten sowie Strompreisrisiken erheblich reduzieren und die Resilienz in Krisen sowie bei unvorhersehbaren Marktentwicklungen steigern.

Unnötige Kosten und CO2-Emissionen

Bislang wird das industrielle Energieflexibilitätspotenzial in Deutschland jedoch kaum genutzt. Das liegt an den völlig veralteten und flexibilitätshemmenden regulatorischen Rahmen­bedingun­gen. So werden Un­ternehmen mit Paragraf 17 Abs. 2 der Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) angereizt, ihre Stromnachfrage nach dem Ziel der Last­spitzen­minimierung zu steuern, um ihre Netzentgelte gering zu halten.

Noch schlimmer ist es bei energie­intensiven Unternehmen: Durch Paragraf 19 Abs. 2 S. 2 StromNEV erhalten diese bei mehr als 7000, 7500 oder gar 8000 Benutzungsstunden mit möglichst konstantem Strom­verbrauch Netzentgeltre­duk­­tio­­nen bis zu 90 Prozent. Dies steht einer zunehmend fluktuierenden Einspeisung erneuerbarer Energien dia­metral entgegen. Die Regelung hemmt sowohl die Nutzung vorhandener Flexibilität als auch neue In­vestitionen in energieflexible Technologien. Sie verhindert damit die notwendige Flexibilisierung der Strom­­nachfrage im deutschen Energiesystem und Innovationen in Produktionsprozessen. Dies gefährdet nicht nur die Wettbewerbs­fähig­keit der deut­schen Industrie und die Versorgungs­sicherheit, sondern auch den Green Deal der Europäischen Union.

Beispiele für die zum Teil gravierenden regulatorischen Fehlanreize finden sich aber nicht nur in der StromNEV. Betreiber von Blockheizkraftwerken können beispielsweise nach Paragraf 3 Energiesteuergesetz und Paragraf 9 Stromsteuergesetz die Energiesteuer für das eingesetzte Erdgas bei einer möglichst konstanten Jahresfahrweise zurück­erstattet erhalten. Für diese Energiesteuerbefreiung betreiben Unternehmen trotz Gasmangellage ihre BHKW im Sommerhalbjahr mit oft unverminderter Leistung weiter und blasen überschüssige Wärme­energie in den Schornstein. Damit werden nicht nur große Mengen knappen Erdgases verschwendet, sondern auch vollkommen unnötiges CO2 freigesetzt.

Zu spät, zu wenig und zu bürokratisch

Um bereits vorhandene Flexibilitätspotenziale zu heben und diese Fehlanreize in Bezug auf Einsatz und Ausbau von Energieflexibilität zu beseitigen, müssen dringend die regulatorischen Rahmenbedingun­gen geändert werden. Dies hat mittlerweile auch die BNetzA erkannt und reagiert. So wurde im Juni 2023 im Rahmen der zweiten Konsultation von Paragraf 14a EnWG ein Konzept für die Einführung zeitvariabler Netzentgelte vorgestellt. Für private Netznutzende entsteht damit ein Anreiz, den Stromverbrauch in Zeiten zu verschieben, in denen die Netze weniger belastet sind. Die energieintensive Industrie blieb in dieser Revision – im Hinblick auf deren erzielbare, positive Wirkung für Stromsystem und CO2-Reduktionen unverständlich – bislang unberücksichtigt.

Wenige Monate zuvor brachte die BNetzA mit Beschluss BK4-22-089 vor dem Hintergrund der kriegs­bedingten Gasverknappung die Änderung des Paragrafen 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV durch Einfügung des Paragrafen 118 Abs. 46a EnWG in das Energiesicherungsgesetz ein: Befristet bis Ende 2023 sollen regelenergiebedingte Leistungs­spitzen sowie Leistungsreduktionen in Zeiten besonders hoher Preise am Day-Ahead Markt nicht mehr bei der Berechnung der Jahresbenutzungsstunden berücksichtigt werden. Gleiches gilt für nachzuho­len­de Leistungserhöhungen an Sonn- und Feiertagen.

Solche Sonderregelungen sind ein erster Schritt in die richtige Richtung. Allerdings greifen sie zu kurz, sind in ihrer Ausgestaltung zu kompliziert und damit für die Industrie meist nicht anwendbar. Gleich­zeitig ignorieren diese kurzfristigen Anpassungen den grundsätzlichen Novellierungsbedarf der Netz­ent­gelt­regulierung. In einer aktuellen Untersuchung und in einem Demonstrator zeigen wir im Rahmen des Kopernikus-Projektes SynErgie, dass sowohl vor als auch nach dem Beschluss BK4-22-089 den Erlösen aus der Vermarktung industrieller Energieflexibilität deutlich höhere Netzentgelte gegenüberstehen. Zudem bleiben hohe Einspar­poten­ziale von Treibhaus­gas­emissionen durch eine erweiterte Nutzung erneuerbarer Energien größten­teils ungenutzt.

Regulatorisches Lernen entscheidend für Erprobung neuer Regulierung

Es besteht daher dringender Handlungsbedarf für eine wirksame und verlässliche Regulierung durch die Bundesregierung und die BNetzA mit Unterstützung von Wissenschaft und Industrie, die in der Praxis anwendbar ist und die gewünschte Wirkung entfaltet. Nur so kann die Energiewende gelingen und die Versorgungssicherheit sowie der Green Deal zugleich gewährleistet werden. Bei unterschied­lichen Auffassungen muss regulatorisches Lernen – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – erfolgen.

Das vom BMWK initiierte Reallabor-Gesetz bietet hierfür die entsprechende Grundlage, um in Modellregionen, wie beispielsweise der Energieflexiblen Modellregion Augsburg, solche Änderungen in der Praxis zu erproben und zu evaluieren. Anschließend kann Deutschland als europäisches Vorbild die großen Themen des Strommarktdesigns wie lokale Preise angehen, wie dies unsere SynErgie-Partner Marion Ott und Achim Wambach ausführen. Zunächst müssen Bundesregierung und BNetzA jedoch ihre lange vernachlässigten regulatorischen Hausaufgaben endlich erledigen, und zwar schnellstmöglich.

Prof. Dr. Dr. h. c.  Hans Ulrich Buhl, FIM/FIT Augsburg, und Prof. Dr. Martin Weibel­zahl, Universität Luxemburg und FIM/FIT Augsburg und Bayreuth, haben im Kopernikus-Projekt SynErgie seit vielen Jahren Leitungsfunktionen inne. Das Projekt wird vom BMBF gefördert. Ihr Fokus liegt dabei auf Flexibilitäts­ver­­mark­tung, Regulatorik und in der Modellregion Augsburg.

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