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Energie & Klima

Standpunkte Was die neue Regierung in den ersten 100 Tagen versäumt hat

 Andrew Mack, CEO von Octopus Energy Deutschland
Andrew Mack, CEO von Octopus Energy Deutschland Foto: Octopus Energy

Bei der intelligenten Steuerung des Stromsystems ging es in den ersten 100 Tagen der Ampel-Koalition eher schleppend voran, schreibt Andrew Mack in seinem Standpunkt. Versorgungssicherheit und die gerechte Aufteilung von Kosten und Entlastungen im Energiebereich würden die Ankündigungen aus dem Koalitionsvertrag überlagern, meint der CEO von Octopus Energy Deutschland.

von Andrew Mack

veröffentlicht am 17.03.2022

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Die überraschend leisen Koalitionsverhandlungen und die schnelle Bildung der neuen Regierung ließen nach der letzten Bundestagswahl bei so manchen Skeptikern Hoffnung und Neugier auf eine neue politische Dynamik aufkeimen. Der Realitätscheck kam jedoch ebenso schnell: Pandemie, Energiepreiskrise und der Krieg in der Ukraine – eine Schonfrist für die Ampelkoalition gab es nicht. 

Der russische Angriff auf die Ukraine hat nun die Preise für fossile Energieträger binnen weniger Wochen auf Rekordstände getrieben. Es rächt sich, dass sich Deutschland – trotz aller Bemühungen um die Energiewende – immer weiter in energiepolitische Abhängigkeit von Moskau begeben hat. Die Ampel muss mehr denn je einen Balanceakt schaffen: Einerseits den im Koalitionsvertrag verankerten Turbo für den nachhaltigen Umbau des Energiesystems aktivieren und gleichzeitig mit zielgerichteten Maßnahmen die Auswirkungen des Energiepreisschocks abfedern

Bereits im Oktober 2021 hat Octopus Energy die wichtigsten Maßnahmen skizziert, die aus unserer Sicht von der neuen Bundesregierung angepackt werden sollten, um die Energieversorgung in Deutschland zu verbessern: besser für das Klima und besser für die Menschen. Unsere Empfehlungen betrafen damals vier Themenfelder: Energiepreise, Verbraucherschutz, technologische Möglichkeiten und intelligente Regelung. Welche Bewertung geben wir der Ampel-Koalition in diesen Bereichen nach 100 Tagen im Amt?

Strompreise und Verbraucherschutz: Die Ampel beweist Handlungswillen

Im Bereich Stromkosten für Endverbraucher konnte sich die Bundesregierung schon vor dem Ukrainekonflikt auf eine Entlastung einigen. Zumindest die EEG-Umlage wird bereits im Sommer dieses Jahres wegfallen und fortan aus Haushaltsmitteln und der CO2-Abgabe finanziert. Dies ist eine gute Nachricht für alle Stromkunden. Das Bundeskabinett hat zudem einen einmaligen Heizkostenzuschuss für Menschen mit geringem Einkommen beschlossen und einen Kindersofortzuschlag auf den Weg gebracht, der an Familien gehen soll, die jeden Cent umdrehen müssen.

Diese Maßnahmen sind ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings erhöht die Ukrainekrise den energiepolitischen Handlungsdruck noch einmal enorm. Natürlich hat Deutschland nur begrenzt Einfluss auf die Rohstoffkosten – gerade im Bereich der aus Russland bezogenen fossilen Energieträger wie Erdgas. Allerdings kann die Bundesregierung sehr wohl an der Steuer- und Abgabenschraube drehen und sollte den mit der Abschaffung der EEG-Umlage begonnenen Weg konsequent zu Ende gehen. Die Stromrechnungen sollten so schnell wie möglich nur noch aus direkten Kosten bestehen – das heißt aus Rohstoff- bzw. Erzeugerkosten, Netzentgelten, Lieferantenkosten und der Mehrwertsteuer.

Auch wenn die Bundesregierung mit dem anstehenden Ergänzungshaushalt jetzt die Gelegenheit hat, kurzfristig auf die Folgen des Ukrainekriegs zu reagieren und weitere Entlastungen als Ausgleich für die stark gestiegenen Energiepreise zu beschließen, so sollte dies mit Augenmaß geschehen und Subventionen beziehungsweise Transferzahlungen für fossile Energieträger zeitlich begrenzt werden. Ansonsten droht der nun zu spürende Elan für den Umbau des Energiesystems bei der ersten Entspannung wieder zu erlahmen.

Es ist zudem zu begrüßen, dass die Koalition erkannt hat, dass die nicht nachhaltigen Geschäftsmodelle unseriöser Billiganbieter (und die damit verbundenen Skandale) nicht nur den Ruf der gesamten Energiebranche beschädigen, sondern Verbrauchern, Grundversorgern und ehrlichen Anbietern gleichermaßen Schaden zufügen.

Octopus Energy engagiert sich seit langem für Transparenz und Fairness auf dem Strommarkt und es ist positiv zu bewerten, dass die Bundesregierung nun endlich versucht, unseriöse Anbieter herauszufiltern und im Dialog mit der Branche und Verbraucherschützern langfristig funktionierende Lösungen zu finden – denn gewieften Geschäftspraktiken gehört ein für alle Mal der Riegel vorgeschoben. Dazu gehört unter anderem das Verbot von Knebelverträgen mit überzogener Laufzeit und die Zuordnung klarer regulatorischer Zuständigkeiten für spezifische Verbraucherschutzfragen.

Langsamer Start beim Einsatz von Technologie und intelligenter Regelung

Beim Einsatz von Technologie und intelligenter Steuerung des Stromsystems geht es in den ersten 100 Tagen eher schleppend voran. Ja, es handelt sich um komplexe Themen, die angegangen werden müssen, aber gerade deshalb ist es umso dringlicher, schnell damit zu beginnen – denn gerade in diesem Bereich sind die Beharrungskräfte, die einem Umbau in Richtung eines modernen und vor allem flexiblen Stromsystems entgegenstehen, enorm.

Der Strombedarf wird durch Wärmepumpen und E-Mobilität weiter stark ansteigen, während gleichzeitig der Anteil der erneuerbaren Energien am Energiemix – hoffentlich drastisch – steigen wird. Um diesen Übergang zu beschleunigen, müssen der Energieverbrauch flexibler gesteuert und die Verbraucher besser einbezogen werden. Der neue Minister für Wirtschaft und Klima, Robert Habeck, ist bei seiner Werbetour durch die Bundesländer für die vom Bund angestrebte Vereinfachung der Windenergie-Planungsvorschriften auf teils erheblichen Widerstand der Landesregierungen gestoßen. Vor diesem Hintergrund kann man sich ausmalen, wie groß erst der Widerstand der mehr als 800 Stromnetzbetreiber beim Thema Smart Metering sein wird.

Auch bei der großangelegten Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Verbänden – Stichwort aus dem Koalitionsvertrag: „Allianz für Transformation“ – ist bisher wenig passiert. Auch wenn diese Fachthemen unter dem Eindruck der Ukrainekrise wenig Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit genießen, ist es von erheblicher Bedeutung, dass die angekündigten Arbeitsgruppen für die „Plattform Klimaneutrales Stromsystem“ und die „Roadmap Systemstabilität“ so schnell wie möglich die Arbeit aufnehmen, um wie geplant in den nächsten zwölf Monaten Ergebnisse vorlegen zu können.

Nicht jeder braucht morgen einen intelligenten Stromzähler oder einen zeitabhängigen Tarif, aber wir müssen für ein flexibleres Energiesystem den Weg ebnen – hier sind unsere Partner innerhalb und außerhalb der EU teilweise wesentlich weiter.

Vom Wollen zum Machen

Insgesamt bleibt es in den ersten 100 Tagen der Ampelkoalition sehr stark beim „Wollen“. Es wird deutlich, wie sehr die aktuellen Fragen nach der Versorgungssicherheit sowie nach einer sozial gerechten Aufteilung von Kosten und Entlastungen die Ankündigungen aus dem Koalitionsvertrag überlagern.

Allerdings zeigt sich auch: Der Umbau unseres Energiesystems war zu langsam. Die normative Kraft der weltpolitischen Entwicklung zwingt uns jetzt, die Energiewende radikal zu beschleunigen. Grüner Strom ist der Energieträger der Zukunft und je schneller es Deutschland gelingt, sich aus der Abhängigkeit von russischem Erdgas und Öl zu befreien, desto besser.

Die bisher auf den Weg gebrachten Maßnahmen in anderen Bereichen (wie der Verteidigungspolitik) zeigen, dass die Ampel trotz ihrer speziellen Dreierdynamik (sozial, grün und liberal) bestrebt ist, überkommene Dogmen über Bord zu werfen und schnell effektive Lösungen anzuschieben. Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Handlungswillen auch auf den Ausbau der Erneuerbaren und die Ertüchtigung der Netze erstreckt.

Konkrete Gesetzesentwürfe sind noch Mangelware. Allerdings würden genau diese den Ende letzten Jahres gewährten Vertrauensvorschuss bestätigen und nachweisen, dass die Ampel-Koalition über die Lösung der kurzfristig aus dem Ukrainekonflikt erwachsenden Versorgungsprobleme gewillt ist, auch bei den im Koalitionsvertrag genannten mittel- und langfristigen Projekten Tempo zu machen. Octopus Energy und viele andere Akteure auf dem Energiemarkt sind ausdrücklich gewillt, sich an den Arbeitsprozessen des Wirtschafts- und Klimaministeriums zu beteiligen und dazu beizutragen, dass die Ampel ähnlich wie bei der sozialen Unterstützung der Stromkunden auch bei neuen Technologien, dem Ausbau der erneuerbaren Energien und der Neuorganisation des Strommarkts Willenskraft zügig ins Tun umsetzen kann.

Andrew Mack ist seit November 2020 Geschäftsführer von Octopus Energy Germany, einem auf nachhaltige Energie spezialisierten Strom- und Gasversorger aus Großbritannien. 2016 gründete Mack das Energie-Startup 4hundred, welches seit 2019 Teil von Octopus Energy ist. Zuvor war der ausgewiesene Energieexperte mehrere Jahre als Chefstratege bei dem britischen Energieversorger OVO Energy tätig.

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