Zuallererst: Kein Hersteller, der derzeit in Europa Solarzellen oder Solarmodule produziert, fordert Zölle auf die Einfuhr chinesischer Solarmodule. Diese Behauptung, wie sie teilweise auf LinkedIn und auch in einem Gastbeitrag des Bundesverbands Neue Energiewirtschaft (BNE) vor rund einer Woche an dieser Stelle aufgestellt wurden, ist ein Strohmann, der davon ablenkt, worum es eigentlich geht: Darum, die europäische Solarindustrie wieder aus ihrer sehr kleinen, aber kraftvollen Nische zu holen und sie in nur wenigen Jahren – bis 2030 – in die Lage zu versetzen, mindestens 40 Prozent der in Europa installierten Solaranlagen selbst herzustellen.
Das ist das Ziel der EU-Kommission und der Bundesregierung. Es geht darum, strategische Resilienz aufzubauen – nicht nur eine Lehre aus dem Versorgungseinbruch beim Gas nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, sondern auch aus der schmerzvoll erfahrenen Abhängigkeit Europas bei anderen Produkten während der Corona-Pandemie.
Nur: Von dieser Aufbruchsstimmung –durch die Bundesregierung nicht zuletzt mit dem „Leuchtturmprogramm Solarindustrie“ verbreitet – kommt bei der europäischen Solarindustrie aktuell nichts an, im Gegenteil, deren Lage verschlechtert sich täglich: Einzelne deutsche Modulhersteller haben nach mehreren Jahrzehnten erfolgreicher heimischer Produktion ihre Arbeit bereits eingestellt, andere füllen vor allem die Lager.
Substanz und Investitionen stehen auf dem Spiel
Schon heute sind wichtige vorgelagerte Hersteller die Leidtragenden: So haben die beiden einzigen Produzenten von Solarwafern in Europa ihre Anlagen abgestellt oder sind insolvent. Der einzige europäische Solarglashersteller, ein Unternehmen in der Nähe von Cottbus, muss entscheiden, wie lange es seine Glaswanne noch betreiben kann. Eine gewichtige Entscheidung, denn einmal abgestellt, lässt sich diese Produktionsanlage kaum wieder hochfahren. Und unter den vielen Projekten zum Wiederaufbau der europäischen Solarindustrie gibt es zahlreiche, bei denen sich Investoren und Unternehmer fragen, ob sich Investitionen und Aufbauarbeit wirklich lohnen.
Angesichts des Solarbooms in Deutschland – schon Anfang September wurde mit neun Gigawatt das Zubauziel für das Gesamtjahr erreicht – ist das auf den ersten Blick unverständlich. Auf den zweiten Blick aber ist genau die gleiche Ursache, die für das hohe Ausbautempo mitverantwortlich ist, auch der Grund für die schwere Krise der europäischen Solarindustrie: weit unter Herstellkosten „verkaufte“ Solarmodule aus China. Sie sind für die Hälfte oder einem Drittel von dem Preis zu haben sind, den europäische Hersteller aufrufen müssen.
Ein Blick in die Zahlen: Die besten und größten Hersteller in China produzieren nach Angaben des Analysehauses Solarmedia aus London heute für knapp 20 Cent pro Watt Solarleistung. Das Gros hat höhere Kosten, die übrigens nicht weit weg liegen von denen, die auch in Europa erreichbar sind. Ein 400-Watt-Solarmodul verlässt die kosteneffizienteste Fabrik in China damit zu Produktionskosten von 80 Euro. Marge, Logistik, Marketing und weitere Kosten kommen noch obendrauf. Dennoch sind solche Solarmodule in Europa gemäß Preisindex von PVExchange für 15 Cent pro Watt (60 Euro pro Modul) und weniger zu kaufen.
Googeln Sie einfach mal, es ist nicht schwer, diese Module zu finden. Dass statistisch betrachtet 40 Prozent davon mithilfe von Zwangsarbeit produziert worden sind, steht dabei nicht auf den Verkaufsplattformen. Nachlesen lässt es sich aber zum wiederholten Mal in der erst wenige Wochen alten Studie „Over-Exposed“ der Sheffield Hallam University.
Wer den europäischen Herstellern angesichts solcher Produktions- und Verkaufspraktiken vorwirft, sie müssten ihr Kostenproblem lösen, hat fundamentale Dinge nicht verstanden. Es ist für kein Unternehmen möglich, ohne Unterstützung von außen dauerhaft unter Herstellungskosten zu verkaufen, auch nicht in China. Im Gegenteil, die dortige Industrie ist nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) in den letzten Jahren mit mindestens 50 Milliarden Dollar gefördert worden, um genau dieses staatliche Oligopol weltweit im Bereich der Solarindustrie aufzubauen und Abhängigkeiten zu erzeugen. Würde alles nach rein marktwirtschaftlichen Regeln ablaufen, müssten wir schon eine große Insolvenzwelle chinesischer Hersteller sehen. Dann würde auch die Auslastung der verbliebenen chinesischen Fabriken wieder steigen – aktuell liegt sie bei unter 60 Prozent, wie Solarmedia ebenfalls berichtet.
Der Immobilienblase Chinas folgt die Solarblase
Stattdessen sehen wir aber: Woche um Woche kündigen Unternehmen in etlichen chinesischen Provinzen neue Solarfabriken im Gigawatt-Maßstab an – auf den ersten Blick völlig marktfern. Bis Ende des Jahres wird die Produktionskapazität vermutlich doppelt so groß sein wie die Nachfrage im Jahr 2023. Die Sache erinnert ein wenig an Chinas Immobilienblase, bei der auf Teufel komm raus riesige Geisterstädte gebaut wurden, die niemals bezogen wurden.
Denn ebenso wie der Immobilienboom wird der chinesische Solarboom maßgeblich über die zu Wirtschaftswachstum verdammten Provinzen getrieben – etwa mit Investitionssubventionen, Energiegeschenken und Übernahme von Lohnkosten (oder eben Zwangsarbeit). Der Unterschied ist: Die Wolkenkratzer-Bauruinen in den Speckgürteln der großen chinesischen Städte sind im Wesentlichen ein innerchinesisches Problem. Auf die absehbare chinesische Solarblase baut Europa hingegen seine Energiewende mit einer de facto hundertprozentigen Abhängigkeit auf.
Wir müssen daher über die derzeit fehlende Resilienz sprechen und Lösungen entwickeln, wollen wir wirklich aus der Abhängigkeit rauskommen und Liefersicherheit bei den erneuerbaren Energien entwickeln. Was tun wir zum Beispiel, sollte China in Taiwan einfallen und als europäische Antwort Handelsembargos diskutiert werden müssten?
Was ist also das richtige und nachhaltige Instrument, wenn es Zölle nicht sind, weil die Energiewende schon viel zu sehr von China abhängig ist, wir aber gleichzeitig diese Abhängigkeit in wenigen Jahren reduzieren müssen? Die auf der Hand liegende Lösung lautet: Wir sollten sowohl nach einem günstigen Ausbau der Photovoltaik streben als auch nach einem, der unsere Resilienz bei dieser Zukunftstechnologie erhöht. Das kann über einen Bonus erfolgen, den Betreiber von Anlagen künftig dann erhalten, wenn sie sich für eine Solaranlage entscheiden, die zu wesentlichen Teilen aus Europa stammt.
Die Mittel für diesen Resilienzbonus ließen sich über das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) als Aufschlag auf die Einspeisevergütung zahlen – es geht zunächst nur um Beträge im zweistelligen Millionenbereich pro Jahr. Der Bundestag hat im Rahmen der laufenden Novelle des EEG in den kommenden wenigen Wochen die Chance, ein solches Instrument für den Aufbau von „Freiheitstechnologien“ auf den Weg zu bringen. Es könnte als „Leuchtturm-Entscheidung“ für die gesamte Europäische Union gerade noch rechtzeitig kommen, um den fruchtbaren Keim der europäischen Solarindustrie am Vertrocknen zu hindern und zu großer Blüte zu bringen. Ein lohnendes Ziel, denn die europäische Solarindustrie kann ähnlich groß werden wie die europäische Automobilindustrie.
Gunter
Erfurt ist seit 2015 bei Meyer Burger Technology, seit 2020 ist der promovierte
Physiker CEO. Das Unternehmen mit Sitz und Forschungsstandorten in der Schweiz produziert
in Freiberg (Sachsen) und Bitterfeld-Wolfen (Sachsen-Anhalt) Solarzellen und
-module. Beim Wachstum konzentriert sich das Unternehmen nach eigenen Angaben
inzwischen auf die USA, bis die „hiesigen Marktbedingungen fair und nachhaltig
sind“.