Das Jahr 2022 wird möglicherweise in die Geschichte eingehen als das Jahr, in dem gleich zwei der neun „planetaren Grenzen“ überschritten wurden. Zu den bisherigen Hauptproblemen, also Verlust von Artenvielfalt, Klimawandel, nicht-nachhaltige Landnutzung (zum Beispiel durch Entwaldung) sowie Stickstoff- und Phosphorkreisläufe, kamen zwei neue hinzu. Das sind abnehmende Bodenfeuchtigkeit („greenwater use“) und Eintrag naturfremder Stoffe wie Plastik, Chemikalien, industrielle Schwermetalle oder gentechnisch veränderter Organismen („novel entities“).
Gleichzeitig sind 2022 zusätzlich 210 Millionen Menschen von akuter Nahrungsmittelunsicherheit bedroht, und das erste Individuum nennt mehr als 200 Milliarden US-Dollar sein Privatvermögen. Die Welt gerät aus den Fugen, und die Suche nach neuen Wirtschaftsmodellen, die für mehr (Klima-)Systemstabilität, Nachhaltigkeit und Verteilungsgerechtigkeit sorgen, hat begonnen. Zur Auswahl stehen Donut-Ökonomie, Kreislaufökonomie, Gemeinwohl-Ökonomie, Soziale und Solidarische Ökonomie, Gemeingüter und Postwachstum. Das Wirtschaftsmodell von morgen wird vermutlich Elemente aller Alternativen enthalten.
Der stille Diktator BIP
Ein fixer Bestandteil wird jedoch ein neuer Erfolgsmaßstab sein. Denn methodisch unabdingbar ist, dass der Erfolg einer zukünftigen Wirtschaft an den Zielen gemessen wird – genau das leistet das Bruttoinlansprodukt (BIP) nicht. Dennoch wurde makroökonomischer Erfolg bisher an keiner Kennzahl stärker fest gemacht als am BIP. Manche wiegeln ab, es sei nur eine statistische Größe. Anderen zufolge, wie Dirk Philipsen, dem Autor von „The Little Big Number“, ist „BIP-Wachstum zum Ziel wirtschaftlicher Aktivität“ geworden – und über Jahrzehnte sei keine Politikmaßnahme vorstellbar gewesen, die zu seinem Rückgang geführt hätte.
Das Kuriose am „silent dictator“ BIP ist, dass es weder exakt die wirtschaftliche Aktivität misst noch die Zielerreichung. Philipsen schreibt: „GDP is not just a measure of the economy. It defines the economy.” Dieser Kurzschluss ist möglich geworden, weil die Lehrbücher keine klare Definition für „Wirtschaft“ anbieten. Sie definieren nur „Märkte“. Doch viele Grundbedürfnisse werden abseits von Märkten befriedigt, was nach Ansicht anderer der Kern wirtschaftlicher Aktivität ist.
Problem zwei ist, dass das BIP gar nicht die Erreichung des Ziels wirtschaftlicher Aktivitäten misst. Denn es ist egal, ob man, wie manche Lehrbücher, „Wohlstand“ oder „Wohlfahrt“ als das übergeordnete Ziel des Wirtschaftens annimmt, oder das Gemeinwohl, wie diverse Verfassungen („Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“ steht in der Bayerischen Verfassung): Das BIP misst nichts von alldem, sondern lediglich die Summe von Markttransaktionen, die monetär abgewickelt werden. Angesichts dieser Tatsache „BIP-Wachstum“ mit „Wirtschaftswachstum“ gleichzusetzen ist auffallend unpräzise, aber BIP-Wachstum mit ökonomischem Erfolg gleichzusetzen, ist ein methodischer Super-GAU.
Dieser wiegt umso schwerer, als Robert Kennedy bereits 1968 formulierte, dass das BIP „alles misst, bis auf das, was das Leben lebenswert macht“. Diese Klarsicht bewies er vier Jahre vor dem ersten Bericht an den Club of Rome über die Grenzen des Wachstums. Trotz wachsender Kritik saß das BIP immer fester im Sattel. Wachstum wurde zur Religion.
So zogen Jahrzehnte ins Land, bis die ersten Alternativen aufdämmerten. Der kürzlich verstorbene Herman Daly entwickelte den Index of Sustainable Welfare, der das BIP vorsichtig um zusätzliche Wohlfahrtsaspekte ergänzte. In dieser Logik ist bis heute – 2022 – die Bundesrepublik verfangen. Das BIP wird nicht infrage gestellt, im Jahreswirtschaftsbericht 2022 werden bloß 37 zusätzliche Indikatoren in fünf Bereichen von Umwelt- und Klimaschutz bis Bildung, Forschung und Innovation „vorgestellt“. Der nahezu uneingeschränkten Aufmerksamkeit für das BIP tut das kaum Abbruch.
Andere Metriken wie der Happy Planet Index, der Better Life Index, das Gemeinwohl-Produkt oder das Bruttonationalglück fragen direkt, worum es in einem guten Leben für alle Menschen geht. Sie kommen ohne den Zwang aus, monetäre Kennzahlen zu beinhalten. Wenn menschliche Grundbedürfnisse – von Trinkwasser und Nahrung über Gesundheit und Bildung bis soziale Sicherheit und stabilem Klima – mit Geld-Einkommen und -Vermögen gedeckt werden können, ist das gut und erhöht das Gemeinwohl-Ergebnis. Ist dies ohne Markt- und und monetäre Transaktionen möglich, ebenso. Ein konsistentes Zielsystem ist mittel-agnostisch.
Demokratische „Komposition“ des Gemeinwohl-Produkts
Eine mögliche Trendwende zeichnet sich in jüngster Zeit ab: Fünf Regierungen kleiner Länder haben sich auf den Weg gemacht und offiziell vom BIP als Wohlstandsmaß verabschiedet: Schottland, Finnland, Neu Seeland, Island und Portugal. Noch „bastelt“ jedes an einem umfangreichen Indikatorenset, das im Nachhinein nur schwer der Bevölkerung zu vermitteln sein wird.
Einfacher könnte es gehen, wenn man die betroffene Bevölkerung, deren Wohlergehen schließlich gemessen werden soll, direkt einbindet in die „Komposition“ des demokratischen Gemeinwohl-Produkts. Dann würden sich die Menschen mit dem Ergebnis identifizieren und dem bunten Ergebnis-Dashboard interessiert folgen. Noch relevanter würde das Gemeinwohl-Produkt, wenn Politikmaßnahmen prinzipiell darauf evaluiert werden, wie sie sich auf selbiges auswirken.
Hier könnte Bhutan als Vorbild dienen: Der Kleinstaat hat neben dem Bruttonationalglück (GNH) auch ein Screeningtool, mit dem die Auswirkungen von Politikmaßnahmen auf das „GNH“ evaluiert werden können. Konkret wurde es unter anderem vor dem geplanten WTO-Beitritt angewandt. In einem ersten Reflex befürwortete eine Mehrheit der Regierungsmitglieder die Handelsöffnung. Dann aber wurde das Screening Tool hervorgeholt. Nachdem sich herausstellte, dass sich Freihandel negativ auf die Ökosysteme, den sozialen Zusammenhalt, die Verteilungsgerechtigkeit, die kulturelle Vielfalt und die Demokratie ausgewirkt hätte, votierten 17 von 24 Ministern gegen den Beitritt.
Man stelle sich vor, das Kanada-EU-Abkommen CETA würde nicht auf BIP-Wachstum (und Arbeitsplätze, egal welcher Qualität) evaluiert, sondern auf seine Auswirkung auf Klimastabilität, Artenvielfalt, sozialen Zusammenhalt, Verteilungsgerechtigkeit, Machtkonzentration, Demokratiequalität oder Sinnstiftung. Sehr wahrscheinlich würde die Entscheidung dann anders ausfallen als neulich im Bundestag. Wir befänden uns dann in einem neuen Wirtschaftsmodell. In diesem würden wir endlich das messen und unsere Kreativität und Innovationskraft darauf richten, was wirklich zählt.