Wo könnte ich studieren? Welches Auto soll ich kaufen? Es gibt viele Entscheidungen, bei denen wir auf unabhängige Tests zurückgreifen, die oft unterschiedlich ausfallen. Aber was passiert, wenn Ratings zu Unternehmen voneinander abweichen – oder sich sogar widersprechen? Sind die Aussagen dann wertlos? Oder können die Vergleiche dennoch wichtige Informationen liefern?
Gerade in der Finanzwelt werden derzeit voneinander abweichende Rating-Ergebnisse hitzig diskutiert. Im Zentrum der Debatte stehen dabei ESG-Ratings. Also jene Klassifizierungen, in denen Unternehmen nach Umwelt- und Sozialkriterien sowie Aspekten einer guten Unternehmensführung bewertet werden. Einige Skeptiker führen diese Abweichungen sogar als Fundamentalkritik an ESG-Anlagen an. „Tiefgreifend fehlerhaft“, so fasste es im Spätsommer eine Titelgeschichte im „Economist“ zusammen. Als Lösung empfehle sich, hieß es darin, ein eng gefasster Ansatz, der sich nur auf quantifizierbare Kriterien wie Emissionen konzentriere.
Aber ein zu enger Fokus auf CO2-Emissionen birgt Gefahren: Er nimmt den Druck von den Unternehmen, auch in anderen ESG-Feldern Fortschritte zu machen – beispielsweise hinsichtlich Naturverträglichkeit und Menschenrechten. Schlimmstenfalls würden sinnvolle oder gar erforderliche Verbesserungen in solchen Bereichen aufgegeben. Bestenfalls macht ein einseitiger Fokus die Perfektion zum Feind des Fortschritts.
Gründe für unterschiedliche Konzepte
Warum weichen die ESG-Ratings überhaupt voneinander ab? Betrachtet man beispielsweise die Daten der wichtigsten ESG-Rating-Anbieter – darunter ISS ESG, KLD, Sustainalytics, Moody’s, S&P Global, Refinitiv und MSCI – kommen diese zu deutlich unterschiedlichen Einschätzungen zu ein und demselben Unternehmen. Angesichts der aktuellen Situation von ESG-Investitionen und deren Rahmenbedingungen gibt es dafür jedoch mehrere Gründe:
Erstens gibt es keine allgemeingültige Definition für Nachhaltigkeit und nachhaltige Anlagen. Zweitens bestehen Defizite bei der Verfügbarkeit relevanter ESG-Daten. Drittens haben die Rating-Häuser unterschiedliche Ansichten darüber, welche Faktoren die E-, S- oder G-Kriterien in welchem Umfang beeinflussen. Viertens nutzen die Rating-Anbieter unterschiedliche Daten, Methodiken und Berechnungsverfahren.
Ratingdivergenz verspricht Vielfalt
Für Investoren sind die sich daraus ergebenden, teils widersprüchlichen Ergebnisse mindestens unübersichtlich und irritierend, wenn nicht gar ärgerlich. Zahlreiche Regulierungsbehörden und Organisationen weltweit haben sich darum mit der Frage der Divergenz von ESG-Ratings befasst. In ihren Schlussfolgerungen erkennen sie zwar die Herausforderungen an, heben aber auch einige Vorzüge der aktuellen Ansätze hervor.
So lässt sich aus den Veröffentlichungen wichtiger Gremien ableiten, dass verschiedene Perspektiven, unabhängige Methoden, subjektive Urteile und generell Innovationen und Wettbewerb für Märkte und Anleger von Vorteil sein können. Gleichzeitig warnen sie vor zu schematischen Ansätzen. Und wenn ein gemeinsames, übergreifendes Ziel davon ableitbar ist, lautet dies: Die Standardisierung der ESG-Daten sollte vorangetrieben werden.
Vereinfachung ist (vorerst) nicht so leicht
Die Standardisierung von ESG-Daten hat unbestreitbare Vorteile. Aber selbst solch ein datengestützter Ansatz ist möglicherweise nicht so einfach, wie es scheint. Beispiel Quantifizierung von Emissionen: Obwohl mehr als 13.000 Unternehmen an den Erhebungen der Non-Profit-Organisation CDP (Carbon Disclosure Project) teilnehmen, sind die Daten zu den direkten und indirekten Emissionen immer noch recht spärlich. Nach Angaben des Indexanbieters MSCI lag die Offenlegungsquote bei den Titeln, die im MSCI ACWI (All Country World Index) enthalten sind, bei unter 40 Prozent.
Die Ratinganbieter versuchen, diese Datenlücken auf verschiedenen Wegen zu schließen. Dazu verwenden sie alternative Quellen, eigene Tools, unterschiedliche Schätzmethoden oder beziehen von den Unternehmen angekündigte Ziele mit ein. So können alle Versuche, das Problem der unvollständigen Daten zu lösen, in vielen Fällen zu mehr – statt zu weniger – Abweichungen bei den Bewertungen führen.
Kein Ersatz für harte Arbeit
Mit der Zeit werden jedoch die Bemühungen der Branche und der Aufsichtsbehörden, das Spektrum der ESG-Daten zu standardisieren und die Offenlegung zu verbessern, dazu beitragen, dass die Ratings vergleichbarer werden. Vielleicht werden die Abweichungen der Ratings infolgedessen abnehmen.
Bis dahin müssen die Marktteilnehmer ihre Hausaufgaben machen, um den Prozess zu verstehen, der einem bestimmten ESG-Rating zugrunde liegt – oder noch besser, eine robuste eigene Methode für ESG-Ratings entwickeln. Gleichzeitig sollten die Anleger erkennen, dass unterschiedliche ESG-Ratings auch eine Vielfalt von Ansichten signalisieren. Und das ist nie etwas Schlechtes.