2018 lebten in der Bundesrepublik Deutschland 13,7 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Sie stellen mit einem Anteil von 16,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung eine relevante Gruppe dar. Die Bundesregierung hat im Jahr 1992 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert, in der das Recht des Kindes „auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit” verankert ist. Dazu gehört natürlich auch das Recht auf eine bestmögliche Arzneimittelversorgung. Das betrifft die Bereitstellung von Wirkstoffen – auch in einer adäquaten kinderspezifischen Darreichungsform.
Arzneimittel müssen einen komplexen Zulassungsprozess durchlaufen, bevor sie auf den Markt gebracht werden können. Zunächst werden in der Regel daher auch aus ethischen Gründen Studien bezüglich neuer Arzneimittel bei Erwachsenen durchgeführt – zum Beispiel aufgrund der Einwilligungfähigkeit – bevor eine Studie auch bei Kindern realisiert werden kann. Zudem ist die pharmazeutische Industrie naturgemäß marktwirtschaftlich orientiert und investiert bevorzugt in mögliche „Blockbuster“ mit hohen oder erlösträchtigen Marktanteilen. Das bedeutet, dass Zulassungen im Kindes- und Jugendalter schwieriger und/oder ökonomisch unattraktiver sind und nicht im Sinne eines Rechtes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit erfolgen.
Unlicensed und Off-Label-Use
Viele Arzneimittel sind aus medizinischen Gründen in der Therapie bei Kindern und Jugendlichen unverzichtbar. Sie werden dann ohne Zulassung im Off-Label- und Unlicensed-Use verordnet. Nach Schätzungen werden in Europa im ambulanten Bereich zehn bis 30 Prozent, im stationären Bereich 45 bis 60 Prozent und im intensivmedizinisch/neonatologischen Bereich sogar bis 90% der Arzneimittel off-label verabreicht.
Mit der europaweit geltenden EG-Verordnung zu Kinderarzneimitteln (Nr. 1901/2006) wurde in Kenntnis dieses Problems im Jahr 2007 ein neuer Rechtsrahmen für eine Verbesserung der Zulassung von Arzneimitteln zur pädiatrischen Verwendung geschaffen. Noch nicht zugelassene Arzneimittel können demnach erst nach Durchführung eines von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) geprüften pädiatrischen Forschungskonzeptes (Paediatric Investigational Plan – PIP) zur Zulassung beantragt werden. Mit dem PIP soll sichergestellt werden, dass Voraussetzungen definiert und geprüft werden, unter denen ein Arzneimittel zur Behandlung der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe zugelassen werden kann. Die Zulassungsbehörde prüft unter Beteiligung des EMA-Pädiatrie-Ausschusses, ob im Rahmen des Zulassungsantrages die Anforderungen des gebilligten pädiatrischen Forschungskonzeptes eingehalten wurden. Seit 2018 sind mit diesem Verfahren über 310 Zulassungen von Neu-Arzneimitteln auch im Kindes- und Jugendalter erfolgt. In den fünf Jahren vor 2008 waren es allerdings 159, in den fünf Jahren nach 2008 mit 166 nur unwesentlich mehr.
Eine Erweiterung der Zulassung von im Erwachsenenalter bereits zugelassenen Arzneimitteln auch für das Kindesalter ist prinzipiell über das freiwillige Paediatric Use Marketing Authorisation – Verfahren (PUMA) zu erreichen. Dazu sind, wie bei einem neuen Arzneimittel, gemäß einem PIP Studien notwendig, die der zukünftige Zulassungsinhaber zusätzlich zu dem bereits zugelassenen „Erwachsenen-Arzneimittel“ durchführen muss. PUMA-Arzneimittel werden ausschließlich für Kinder zugelassen und erfüllen somit eine Alleinstellung ohne therapeutisch gleichwertige Alternative. Der Anreiz für PUMA-Verfahren ist gering, seit der Einführung im Jahr 2008 sind lediglich sechs Zulassungen erfolgt.
Ernüchternd ist die Tatsache, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einen Zusatznutzen für eines der zugelassenen Präparate nicht sah. Es handelt sich dabei um eine kindgerechte Hydrocortisonformulierung, bei der bei Neugeborenen mit einer Nebenniereninsuffizienz auf Grund der Dosiersicherheit unzweifelhaft ein Zusatznutzen vorliegt. Der Vorteil liegt darin, dass keine Erwachsenentabletten zermörsert oder sonst irgendwie aufgeteilt werden müssen, um ein Neugeborenes mit eine altersgerechten Dosierung zu behandeln. Aus formalen Gründen wurde der Zusatznutzen nicht anerkannt, da die Regularien nur eine Bewertung bei unterschiedlichen Wirkstoffen vorsehen. Wenn man wie in diesem Fall Hydrocortison mit Hydrocortison ohne Berücksichtigung der Applikationsform vergleicht, kann kein Zusatznutzen resultieren.
§ 35c Abs. 1 SGB V ermöglicht in engen Grenzen einen Off-Label-Use als GKV-Leistung. Zur fachlich-wissenschaftlichen Beurteilung dieser Thematik werden vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Expertengruppen eingesetzt (bislang gibt es keine Expertengruppe Kinder- und Jugendmedizin), die ihren Sitz beim BfArM haben. Sie prüfen im Auftrag des G-BA, in welchen Fällen ein zugelassenes Arzneimittel bei der Behandlung von Krankheiten eingesetzt werden kann, obwohl es für diese Erkrankung (noch) keine Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz hat. Die Empfehlungen der Expertengruppen werden vom G-BA in Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie umgesetzt und führen so zu einer verbindlichen Regelung für den Off-Label-Einsatz der bewerteten Arzneimittel im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung.
Was sind die Folgen einer Off-Label-Verordnung?
Die in medizinischen Leitlinien empfohlene Therapie betrifft auch Off-Label-Use-Medikation. Der verordnende Arzt ist in dem Dilemma, dem kindlichen Patienten ein Präparat vorzuenthalten oder außerhalb der Zulassung zu verabreichen. Seitens der gesetzlichen Krankenversicherung besteht keine Erstattungspflicht im ambulanten und stationären Bereich. Theoretisch muss somit jede Off-Label-Verordnung bezüglich der Erstattung mit der Krankenkasse abgestimmt werden.
Grundsätzlich besteht bei jedem Off-Label-Use eine Aufklärungspflicht gegenüber den Patienten/Eltern. Man stelle sich das auf einer Frühgeborenenstation vor, bei dem diese Problematik in der lebensbedrohlichen Situation eines Kindes mit den emotional hochbelasteten Eltern ausdiskutiert werden muss. Beim Off-Label-Use haftet der Hersteller nicht, der Verordner trägt das Risiko. Kinder- und Jugendkliniken müssen ihr somit höheres Risikoprofil mit den Haftpflichtversicherern verhandeln – mit wohl welchem Ergebnis?
Die Rechtsprechung bezüglich Behandlungsfehler/Erstattungspflicht ist nicht einheitlich. Ein anschauliches Beispiel ist das „Aciclovirurteil“ des Oberlandesgerichtes Köln aus 1990. Eine Klinik wurde zu Schadenersatz verurteilt bei einer zu späten Verabreichung eines seinerzeit zur Verfügung stehenden Medikamentes (Aciclovir), das im Kindesalter nicht zugelassen war gegen Herpesviren bei einer kindlichen Herpesvirus-Gehirnentzündung. Begründung: Das Kind wurde nach medizinischem Standard behandelt. Das heißt, dass juristisch eine Behandlung mit einem nicht zugelassenen Arzneimittel als medizinischer Standard eingeschätzt werden kann. Wie bereits ausgeführt – ohne Erstattungspflicht der Krankenkassen, ohne Haftung des Herstellers bei Auftreten von Nebenwirkungen und so weiter.
Ausblick und Forderung
Wir brauchen eine Forschungsförderung von Studien im Kindes- und Jugendalter (Aufforderung an die EU-Mitgliedsstaaten nach Art. 39 Kinderarzneiverordnung). Die Auswertung von Erfahrungswissen/Neunutzung/Alternativnutzung vorhandener Daten (Register, Pharmakovigilanz, Krankenkassendaten und Co.) sollte zum Beispiel vom BfArM aktiv betrieben werden. Die Expertengruppe Off-Label-Use im BfArM sollte im operativen Bereich gestärkt werden, um diese Aufgaben übernehmen zu können. Gegebenfalls gehört dazu auch die Akzeptanz nicht-interventioneller Studien. Das Problem der mangelnden Zulassung muss politisch als solches erkannt werden; Lösungsmöglichkeiten müssen von der Politik entwickelt werden.
Burkhard Rodeck ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Zuvor war er Chefarzt am Christlichen Kinderhospital Osnabrück.