Eigennutz, Gier, stark differierende Interessen und ein komplexes Gesundheitssystem erlauben es geschickten Spielern immer wieder, ihre marktwirtschaftlichen Teilaspekte in den Vordergrund zu stellen und politische Reformbemühungen scheitern zu lassen. Unsere solidarische Arzneimittelversorgung ist gefährdet. Drohen uns US-amerikanische Verhältnisse?
Um unser Gesundheitssystem, eines der weltweit Besten, beneiden uns viele Länder. Trotzdem gibt es seit vielen Jahren Tendenzen, die in eine falsche Richtung weisen. Obwohl wir die Corona-Pandemie bisher (noch) verhältnismäßig gut gemeistert haben, hat sie viele dieser Mängel demaskiert und offengelegt. Schon lange gibt es massive Probleme in der Arzneimittelversorgung. Bereits vor Ausbruch der Pandemie waren Liefer- und Versorgungsengpässe und explosionsartig steigende Preise bei patentgeschützten, innovativen Arzneimitteln Normalität. Hinzu kam eine immense Bürokratie, deren Auswüchse in Form einer Vielzahl von Abgaberegeln es immer schwieriger machten, Arzneimittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen ohne formale Fehler abzugeben.
Dabei ging es immer ums Geld. Im generischen Bereich gipfelten die Einsparbemühungen der gesetzlichen Krankenkassen in den Rabattverträgen, die mehr oder weniger exklusiv zwischen den einzelnen Krankenkassen und den pharmazeutischen Unternehmen zeitlich befristet abgeschlossen werden. Dabei handelt es sich um Ausschreibungen, deren wichtigstes Kriterium der Preis ist und deren Einhaltung nur mit einem erheblichen bürokratischen Aufwand und entsprechenden Sanktionen (Retaxen/Regresse) sichergestellt werden kann, die ihrerseits nicht selten weit über das eigentliche Ziel hinausschießen. Die Kassen sparten damit allein 2018 etwa 4,4 Milliarden Euro ein – ein an sich tolles Ergebnis.
Größtes Ärgernis im Berufsalltag
Erkauft wurde dieser Erfolg aber mit zunehmenden Qualitäts- und Versorgungsmängeln. Die Wirkstoffproduktion wanderte vielfach in kostengünstigere, überwiegend asiatische Länder ab. Lieferengpässe und Arzneimittelskandale (zum Beisiel um Valsartan-Verunreinigungen) nahmen zu. Apotheken konnten immer häufiger nicht sofort versorgen. Kunden mussten sich teilweise gegen ihren Willen auf andere Hersteller umstellen und/oder sich zum Abholen nicht lagernder Medikamente erneut in ihrer Apotheke einfinden. Es gab viel Ärger, zusätzliche Arbeit und Erklärungsbedarf. Laut einer Umfrage der Spitzenorganisation der deutschen Apotheker ABDA gaben im Jahr 2019 insgesamt 91 Prozent der selbständigen Apotheker an, Lieferengpässe seien das größte Ärgernis im Berufsalltag. Zudem sagten 62 Prozent der Befragten, dass sie mehr als zehn Prozent ihrer Arbeitszeit aufwenden würden, um gemeinsam mit Ärzten, Großhändlern und Patienten nach Lösungen für Lieferengpässe zu suchen. Schon dieser Preis für die Rabattverträge und ihre Einsparungen ist hoch.
Hinzu kommt aber, dass auf der anderen Seite Big Pharma bei innovativen, patentgeschützten Neueinführungen die Preisschraube immer skrupelloser nach oben zu drehen begann. Es galt konzerninterne Verluste im generischen Bereich auszugleichen und den Gesamtgewinn zu steigern. Gerade in Deutschland ist es den Firmen noch immer erlaubt, bei der Einführung von Arzneimitteln mit Zusatznutzen den Verkaufspreis nach eigenen, internen Gesichtspunkten festzulegen. Erst nach einem Jahr greifen Mechanismen, die den ersten Verkaufspreis etwas reduzieren, was aber wohl in die Gesamtkalkulation schon eingeflossen sein dürfte.
Nicht umsonst gehören die global agierenden Pharmariesen zu den profitabelsten Unternehmen weltweit. Aus ihrer Sicht stimmt die Tendenz: Nach ABDA-Angaben stieg der Anteil der Arzneimittel über 1500 Euro an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenkassen von 2013 bis 2018 von 21,3 Prozent auf 31,8 Prozent – und das obwohl diese Arzneimittel-Preisklasse 2018 nur 0,5 Prozent der abgegebenen Packungen ausmachte. Es gibt aber auch Zolgensma®, ein Medikament gegen eine tödliche Muskelerkrankung bei Babys, das seit 2019 als Neuzulassung in den USA für mehr als zwei Millionen US-Dollar pro Spritze verkauft und in Europa gerade eingeführt wird.
Im generischen Bereich ist Deutschland Billigland
Der beschriebene Spagat zwischen Einsparwillen und Krankenkassenmacht im generischen Bereich und Preisexplosion und marktwirtschaftlicher Macht der Pharmaindustrie bei patentgeschützten Innovationen droht unsere Arzneimittelversorgung dramatisch zu verschlechtern. Im generischen Bereich ist Deutschland inzwischen Billigland – mit den entsprechenden Konsequenzen. Und im patentgeschützten innovativen Teil ist künftig die Erstattungsfähigkeit durch eine solidarisches Gesundheitssystem massiv gefährdet. Gerade hier drohen US-amerikanische Verhältnisse: Die beste Arzneimittelversorgung steht möglicherweise bald nur noch wenigen Vermögenden zur Verfügung.
Aber auch unter dem Deckmantel der Digitalisierung steckt in vielen Fällen der Lobbywunsch nach neuen Geschäftsfeldern, nach individuellen Daten, die entsprechend gesteuert mehr Gewinn versprechen. Die wahren Patienteninteressen stehen dabei nur selten im Mittelpunkt. So gelingt es beispielsweise bisher nicht, ein Verbot des Versandes verschreibungspflichtiger Rx-Arzneimittel durchzusetzen, obwohl wir durch Telemedizin und Rx-Versand auf dem Weg zu einer Versorgung ohne persönlichen Kontakt und damit faktisch zur Abschaffung der Verschreibungspflicht sind.
Dabei erkannte die Politik unter Pandemiedruck schnell, dass es so nicht weitergehen konnte. In Windeseile wurden Corona-Gesetzespakete erlassen, die unter anderem Bürokratie abbauten, Rabattverträge aussetzten und Zusatzvergütungen für Botendienste einführten. Auch aus Eigennutz besann man sich plötzlich auf das Vorhandensein fachlicher Kompetenz vor Ort. Plötzlich war unstrittig, dass Apotheken zur kritischen Infrastruktur gehören. Plötzlich hatte Effektivität Vorrang vor den Sparzielen der Krankenkassen und vor den üblichen Lobbyinteressen.
Doch alle diese Aktivitäten sind nur vorübergehend. Es fehlt die grundsätzliche Einsicht, dass Arzneimittel ein besonderes Gut sind. Davon ausgehend bedarf es tiefgreifender Maßnahmen, um die Versorgungs- und Arzneimittelsicherheit nachhaltig zu erhalten. Insbesondere das Medikamenten-Monopoly – das heißt, der sorglose, fast spielerische und hauptsächlich von Gier getriebene Umgang mit unserer Arzneimittelversorgung – muss mindestens eingeschränkt, wenn nicht abgeschafft werden. Gesundheit sollte vor Profit gehen.
Dr. Franz Stadler ist fast 30 Jahre selbstständiger Apotheker in der Nähe von München und Autor des kürzlich im Murmann Verlag erschienenen Buches „Medikamenten-Monopoly“.