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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Standort stärken, nachhaltige Versorgung sichern

Nora Schmidt-Kesseler ist Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der chemischen Industrie Nordost und des Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie Nordost
Nora Schmidt-Kesseler ist Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der chemischen Industrie Nordost und des Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie Nordost Foto: privat

Bei der Arzneimittelversorgung befindet sich Deutschland in einem Transformationsprozess, mit ungewissem Ausgang. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hätten die weitere Entwicklung jedoch in der Hand, schreibt Nora Schmidt-Kesseler, die unter anderem Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der chemischen Industrie Nordost ist. Und diese Gestaltungsmacht erstrecke sich auch auf die Pharmaindustrie.

von Nora Schmidt-Kesseler

veröffentlicht am 22.03.2023

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Viele von uns haben es spätestens in den letzten Wochen in Apotheken erlebt: Etliche wichtige Medikamente sind über längere Zeiträume nicht lieferbar. Lieferengpässe bei Medikamenten sind in Deutschland leider nicht neu. Aber in den vergangenen drei Jahren ist die Liste der fehlenden Arzneien merklich länger geworden. Das schürt Ängste. Wenn die Lücke so groß wird wie derzeit, sind solche Ängste nachvollziehbar. Es gibt dann nicht mehr für alle einen Ersatz mit dem gleichen Wirkstoff. Denkbar, dass dann für einzelne bereits die Gesundheit auf dem Spiel steht – im schlimmsten Fall ein Menschenleben.

Immer mehr Menschen erkennen, dass die Pharmaindustrie eine herausragende Rolle für eine sichere, stabile und gesunde Zukunft unseres Landes spielt. Kein Wunder: Anhand unserer Branche kann man hautnah miterleben, vor was für einer historisch beispiellosen Herausforderung wir in Deutschland insgesamt stehen: Energiekosten, Klimawandel, Digitalisierung, demografischer Wandel, neue Arbeitswelten.

Wir befinden uns in einem Transformationsprozess, dessen Ausgang ungewiss ist. Ob wir zurückfallen oder letztlich gestärkt aus diesem Umbruch hervorgehen, haben wir, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, zu einem großen Teil selbst in der Hand. Und diese Gestaltungsmacht erstreckt sich auch auf die Pharmaindustrie – in Deutschland ein wirtschaftlicher Teilbereich, aber ein keineswegs kleiner.

Wie konnte es zu derartiger Abhängigkeit kommen?

Unser Verband warnt schon seit Langem vor der Abhängigkeit, in die sich der Bereich der Medikamentenversorgung in westlichen Ländern begeben hat. Die „Apotheke der Welt“, das ist heute Asien. Das hat uns bezüglich der Versorgung sehr anfällig gemacht.

In den vergangenen Jahren hat sich die Lage zugespitzt. Seit über einem Jahrzehnt erleben wir im Markt für Arzneimittel der Grundversorgung radikale Reformen. So sind seit 2010 die Preise für rezeptpflichtige Arzneien per Gesetz eingefroren. Seit 2018 ist zwar ein nachträglicher Inflationsausgleich pro Jahr möglich, aber angesichts der enormen Preissteigerungen um zehn bis 20 Prozent bei Wirkstoffen und Vorprodukten, noch stärkeren bei Energie sowie steigenden Löhnen reicht das längst nicht aus. Und wenn keine Möglichkeit besteht, die gestiegenen Kosten weiterzugeben und nachzusteuern, kann das auf Dauer einfach nicht funktionieren. Das hat dazu geführt, dass Unternehmen schlicht aufgehört haben, bestimmte Produkte zu produzieren. Oder sie haben die Produktion ins Ausland verlagert.

In der Öffentlichkeit herrscht stellenweise die Wahrnehmung vor, dass die Pharmaindustrie riesige Gewinne einfahren würde. Doch das ist nicht so. Vor allem bei den Generika – Nachahmerprodukte, die nach Ablauf des Patentschutzes für ein Originalpräparat auf den Markt gebracht werden – ist der Preisdruck ungeheuer erhöht worden. Generische Arzneimittel produzieren in Europa häufig nicht die Erstanbieter, sondern kleine mittelständische Unternehmen, die sich auf die Herstellung von Nachahmerprodukten spezialisiert haben. Sie haben in der Regel nicht die Originale erfunden und konnten während der Patentlaufzeit nicht daran verdienen. Wir haben es hier mit zwei völlig unterschiedlichen Märkten zu tun. Bei einem Gewinn von zwei bis drei Cent pro Verpackung kann niemand ernsthaft von riesigen Margen sprechen. Kommt die Festschreibung der Preise noch hinzu, ist eine sichere Arzneimittelversorgung nicht mehr gewährleistet.

Produktionsverlagerung lässt sich nicht einfach umkehren

Was den Ruf der Rückholung von Produktion nach Deutschland und Europa – im Zuge der Corona-Pandemie als auch jetzt wieder – betrifft: Die Entwicklung der Produktionsverlagerung ist eine Folge von politischen Entscheidungen, die über Jahre getroffen wurden. Sie lässt sich nicht einfach umkehren – selbst wenn der Wille da wäre. Wofür wir aber sorgen können und auch müssen: dass die Betriebe, die noch hier sind und produzieren, nicht auch noch abwandern.

Wir sollten daher schnellstens eine Lösung für die Preise der Arzneimittel der Grundversorgung finden. Der Referentenentwurf zum Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungs­verbesserungsgesetz (ALBVVG) ist nicht das umfassende Gegenmittel, denn er gilt nur für Antibiotika, Krebsmedikamente und Kinderarzneimittel. Ebenso lebensnotwendig sind aber zum Beispiel Schilddrüsenpräparate oder Diabetesmittel. Für mich ist daher klar: Die Gesellschaft braucht Lösungen, die eine Anbietervielfalt in der gesamten Grundversorgung ermöglichen. Das Thema Versorgungssicherheit funktioniert eben nicht ohne auskömmliche Preise.

Wichtig sind gute Rahmenbedingungen

Wir sind auf krisenresiliente und nachhaltige Lieferketten in der Arzneimittelproduktion angewiesen. Und weil das so ist, müssen wir alles tun, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten und Lieferengpässe zu bekämpfen. Dazu brauchen wir einen Fahrplan, der die Herausforderungen der pharmazeutischen Industrie anerkennt und die dringend notwendigen Weichenstellungen in Angriff nimmt. Produktionsbetriebe der Pharmaindustrie dürfen nicht verprellt werden, im Gegenteil. Es ist von zentraler Bedeutung, sie durch die Verbesserung von Rahmenbedingungen am Standort Deutschland zu halten. Neben den bereits erwähnten auskömmlichen Preisen müssen Verwaltungs­prozesse modernisiert, Genehmigungsverfahren vereinfacht, Gesundheitsdaten für Unternehmen nutzbar gemacht und strategische Investitions- und Forschungsfelder gemeinsam mit der Wirtschaft festgelegt werden. Und Deutschland muss weg vom Klein-Klein unkoordinierter Fördermaßnahmen.

Lohnt es sich, für gute Rahmenbedingungen für die Pharmaindustrie einzutreten? Die Antwort kann nur sein: Ja. Die Wirtschaft in Deutschland wird von dem rekordverdächtigen Export und den Milliardeninvestitionen in Sachgüter profitieren, die in dieser Branche weiterhin stattfinden. Und die Gesellschaft bekommt etwas dafür: eine hohe Qualität des Gesundheitswesens, eine nachhaltige Patientenversorgung, hochqualifizierte Fachkräfte mit überdurchschnittlicher Entlohnung. All das deckt sich mit Herausforderungen, die unsere Gesellschaft als Ganzes betreffen – und deshalb sind es aus meiner Sicht starke Argumente.

Nora Schmidt-Kesseler ist Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der chemischen Industrie Nordost und Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie Nordost.

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