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Gesundheit & E-Health

Standpunkte Das Dilemma mit den Lieferketten

Sebastian Moritz, Managing Partner, TWS Partners AG
Sebastian Moritz, Managing Partner, TWS Partners AG Foto: TWS Partners

Lieferketten stellen für Industrien komplexe Herausforderungen dar. Eine Vollkaskoversicherung gegen Lieferausfälle gibt es nicht, meint Sebastian Moritz, Managing Partner bei der TWS Partners AG. Im Standpunkt erklärt er, was helfen kann. Darunter: die lückenlose Überwachung durch Blockchain-Technologien und der Aufbau strategischer Reserven.

von Sebastian Moritz

veröffentlicht am 29.09.2020

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Leere Supermarktregale haben den Verbrauchern Anfang des Jahres gezeigt, dass globale Lieferketten ein integraler Bestandteil unseres Alltags geworden sind. Noch kritischer sind aber aus dem Tritt geratene Pharma-Lieferketten, die die medizinische Versorgung von Patienten gefährden. Fehlende Beatmungsgeräte, Desinfektionsmittel, Schutzausrüstung oder Narkotika zur Ruhigstellung von künstlich beatmeten Patienten sind hier nur die Spitze des Eisberges. 

Versorgungsengpässe in der Medizintechnik und Pharmaindustrie sind in erster Linie damit zu begründen, dass die zugrundeliegenden Lieferketten hochkomplex sind. Wenn man sich vorstellt, dass eine Verschiebung von Nachfragemustern bereits bei einfachen Produkten wie Toilettenpapier zu Verwerfungen führen kann, erahnt man vielleicht die Herausforderung bei medizinischen Bedarfen. 

Verzahnung bedeutet Abhängigkeit 

Dabei unterliegen die Medizintechnik und Pharmaindustrie denselben globalen Trends wie alle anderen Industrien auch. In den letzten zwei Dekaden nahm die Globalisierung rapide zu. Rohstoffe werden heute auf weltweiten Märkten gehandelt, Vor- sowie Endprodukte längst nicht mehr nur in Europa, sondern auch in den aufstrebenden Ländern Asiens gefertigt. All dies führt dazu, dass Lieferketten immer weiter verzahnt werden. Gerade solche Verzahnung geht aber immer auch mit einer zunehmenden Abhängigkeit einher. 

Nicht erst durch die Covid-19 Pandemie, sondern bereits durch die wirtschafts- und geopolitischen Verwerfungen zuvor wurden deshalb in den Unternehmen Risikoanalysen und Notfallpläne entwickelt, um Lieferketten vor Verwerfungen zu schützen.

Anbieter von Medizintechnik und Medikamenten müssen aber im Vergleich zu Unternehmen in anderen Industrien zwei Probleme gleichzeitig lösen: Zum einen müssen sie auf kurzfristige Produktions- und Lieferausfälle ihrer Zulieferer regieren, um die eigene Versorgung am Laufen zu halten. Zum anderen stehen sie vor der Herausforderung einer enormen Skalierung, das heißt die Vervielfachung ihrer Produktion zur Befriedigung der globalen Nachfrage. 

Problem 1: Es gibt keine Vollkaskoversicherung 

Um das erste Problem anzugehen, werden wir in naher Zukunft drei Trends beobachten. Dazu gehört, mehr Transparenz zu schaffen. Um potentielle Ausfallrisken aktiv managen zu können, müssen Unternehmen wissen, welche Ereignisse ein Risiko für die Lieferfähigkeit darstellen. Ein zweiter Trend wird die noch schneller voranschreitende Digitalisierung der Lieferketten sein. Mit neuen Technologien wie Blockchain lassen sich Lieferungen in Echtzeit lückenlos nachvollziehen. Die verbesserte Nachverfolgung wird helfen, Risiken früher zu erkennen. Allerdings bleibt es Unternehmen auch mit diesen beiden Maßnahmen oftmals nur übrig, passiv zu reagieren, da sich Lieferketten nicht im Handumdrehen umstrukturieren lassen. Gerade in der Pharmaindustrie dauert der Prozess oftmals Jahre. Unternehmen werden sich also die Frage stellen müssen, wie die Lieferketten zukünftig ausgestaltet sein müssen, um Lieferausfälle strukturell zu vermeiden.  

Ein dritter Trend wird das optimierte Design von Lieferketten sein. Naheliegend ist zunächst die Idee, Lagerbestände zu erhöhen. Dies mag bei Engpässen über wenige Wochen eine Lösung sein, bei einer Pandemie, die über Monate wütet, ist das aber kein realistisches Szenario. Ein Reflex, dem viele Unternehmen folgen, ist es, Vorprodukte wieder näher an die eigene Fertigung zu holen. Auch dies wird keine alleinige Versicherung sein, wie die letzten Wochen gezeigt haben. Auch mehrere Lieferanten an unterschiedlichen Orten für ein und dasselbe Vorprodukt zu beauftragen, wäre denkbar, ist aber auch kein Schutz gegen eine globale Pandemie, die gleichzeitig in Asien, Europa und Amerika wütet. 

Keine der obengenannten Ansätze ist also eine Vollkaskoversicherung, sondern kann nur einen Beitrag zur Absicherung leisten – und die optimale Lösung für jedes Unternehmen ist ein hochstrategisches Problem. Es wird sich also überlegen müssen, wie hoch der Versicherungsschutz sein soll. Im Moment ist diese Abwägung zwischen Risiken und Kosten sehr präsent in den Köpfen der Manager, in Zeiten ohne Katastrophenmeldungen werden sich die Prioritäten aber eventuell schnell wieder verschieben. 

Problem 2: Das Dilemma mit unternehmerischen Entscheidungen 

Und damit wären wir beim zweiten Problem: den enormen Produktionskapazitäten, die es bedarf, um beispielsweise 80 Millionen Menschen mehr oder weniger zeitgleich mit Masken, Desinfektionsmitteln und Impfdosen zu versorgen. Problematisch ist dabei, dass auch hier die Interessen von privatwirtschaftlichen Unternehmen nicht deckungsgleich mit nationalen Interessen sind, sprich die Versorgung mit medizinischer Ausrüstung und Medikamenten zu jedem Zeitpunkt sicherstellen zu können. 

Unternehmen werden nicht nur den zuvor diskutieren Versicherungsschutz so wählen, wie es für sie in einer ganz individuellen Kosten-Nutzen-Abwägung sinnvoll ist, sondern auch in Normalzeiten nur gerade so viel Produktionskapazität vorhalten, wie es für sie unternehmerisch sinnvoll ist. Dieses Dilemma begleitet jede Anpassung von Lieferketten an ein zukünftiges Krisenszenario. 

Konsequent strategische Reserven aufbauen 

Es macht nun auch aus ökonomischer Sicht wenig Sinn, dass Deutschland in Normalzeiten Masken, Desinfektionsmittel, Kanülen und Impffläschchen in großem Stil produziert. Andere Länder haben in diesem Bereich komparative Vorteile. Es wird aber darum gehen, Fähigkeiten und Kapazitäten vorzuhalten, die bei Bedarf aktiviert werden können. Dabei geht es nicht darum, in leerstehende und voll ausgestattete Produktionshallen oder prallgefüllte Lager zu investieren. Es reicht aus, wenn zum Beispiel Unternehmen flexibel ihre Produktion umstellen können. BASF hat das am Beispiel der Desinfektionsmittel sehr gut vorgemacht. In Normalzeiten wird also weiter wie bisher importiert, in Krisenzeiten hingegen die nationale, „strategische Reserve“ aktiviert. Dasselbe gilt für die Produktionskapazität von komplexeren Produkten und Wirkstoffen.  

Da eine strategische Reserve aber nicht zwingend im Interesse eines jeden Unternehmens ist, wird der Staat aktiv werden müssen, ähnlich wie wir es aus den Industrien von nationalem Interesse bereits kennen, zum Beispiel beim Flugzeugbau oder der Wehrtechnik. Dort zahlt der Staat bewusst dafür, Technologien, Fähigkeiten und Produktionskapazitäten im eigenen Land zu halten und sich so einen Grad an Autarkie zu sichern – insbesondere in Krisenzeiten.

Dr. Sebastian Moritz ist Managing Partner bei der TWS Partners AG.

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