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Gesundheit & E-Health

Standpunkte „Beim Pflegenotstand über mehr als die Bezahlung reden“

Hester Anderiesen Le Riche, Gründerin und CEO Tover
Hester Anderiesen Le Riche, Gründerin und CEO Tover Foto: Tover GmbH, Marieke van der Heijden

Es sollte nicht so getan werden, als könnten höhere Löhne alleine den Pflegenotstand beheben, schreibt Hester Anderiesen Le Riche im Standpunkt. Stattdessen müsse grundsätzlich neu über Pflege nachgedacht werden. Statt Pflegebedürftige abzuschotten, müssten sie zurück in die Gemeinschaft geholt werden, so die Gründerin von Tover.

von Hester Anderiesen Le Riche

veröffentlicht am 10.02.2023

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Laut Schätzungen des Deutschen Pflegerates fehlen in Deutschland derzeit mehrere hunderttausend Pflegekräfte, um die steigende Zahl von Patient:innen mit Pflegebedürftigkeit angemessen versorgen zu können. Dies führt unweigerlich zu einer Überlastung der bestehenden Pflegekräfte und einer mangelhaften Versorgung von Patient:innen. Auch die Arbeitsbedingungen und -anforderungen in der Pflege sind oft schwierig, was zu hohen Arbeitsbelastungen und einer hohen Burnout-Rate unter Pflegekräften führt. Und es könnte noch schlimmer kommen. Vertraut man dem Pflegereport der Bertelsmann Stiftung, steigt die Zahl der Pflegebedürftigen bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent. Zugleich nimmt die Zahl des Personals in der Pflege stetig ab. Demnach werden künftig fast 500.000 Vollzeitkräfte in der Pflege fehlen, wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen. Dieser drohende flächendeckende Pflegenotstand in Deutschland zwingt uns zum Handeln!

Fakt ist: Nur ein höheres Gehalt wird weder für eine höhere Qualität der Pflege noch für eine höhere Zahl an Bewerber:innen sorgen.

Schnell wird die Forderung laut, mit besserer Bezahlung der Pflegekräfte das Problem zu lösen. Zweifellos richtig daran ist, dass die anspruchsvolle Arbeit und das Engagement der Beschäftigten in diesen Bereichen ungerechtfertigt niedrig entlohnt wird. Aber wir sollten nicht so tun, als könnten höhere Löhne alleine den Pflegenotstand beheben. Wir müssen auch grundsätzlich neu über Pflege nachdenken. Wir müssen den Beschäftigten auch die technischen und medizinischen Mittel an die Hand geben, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Zahlreiche Pflegekräfte, mit denen ich im Rahmen meiner Tätigkeit zu tun habe, wünschen sich Methoden und Wege, Menschen mit Demenz oder anderen kognitiven Einschränkungen aus ihrer Apathie zu holen, ihre Lebensgeister zu wecken.

Digitale Pflege holt Menschen zurück in das soziale Leben

Doch dafür fehlt im Pflegealltag oft schlicht die Zeit. Vor allem in der Langzeitpflege arbeiten die Pflegekräfte unter Zeitdruck: Sie sind oftmals für die Pflege mehrerer Patient:innen gleichzeitig verantwortlich und müssen ihre Aufgaben trotz knapper Ressourcen erledigen. Diese Umstände sind auf Dauer wesentliche Faktoren für Stress und Überforderung. Doppelschichten und tagelange Dienste führen zu Übermüdung und Gereiztheit – beides keine mentalen Zustände, um die Pflege am Menschen optimal durchführen zu können. Eine Arbeit, die auch auf persönlicher Ebene sehr anspruchsvoll ist: Die Bandbreite der Symptome, die beispielsweise im Laufe einer Demenzerkrankung auftreten können, ist sehr groß: Es kann zu Ängsten, Unruhe, Aggressionen, Schlafstörungen oder auch Wahnvorstellungen kommen. So ist es auch kein Wunder, dass Pflegekräfte bei Demenzpatient:innen hauptsächlich aufgrund von psychischen und Verhaltenssymptomen zu medikamentöser Ruhigstellung greifen, um diese zu beruhigen oder sie leichter pflegen zu können. Dabei sollte genau das vermieden werden, da die Sedierung den Patient:innen nicht guttut und sie zusätzlich von ihrer Umwelt abschottet.

Zum Glück gibt es andere Möglichkeiten. Statt Pflegebedürftige abzuschotten, müssen wir sie zurück in die Gemeinschaft holen, ihnen soziale Erlebnisse ermöglichen. Studien belegen, dass technische Innovationen eine Lücke füllen können, für die das Pflegepersonal rein zeitlich keine Kapazitäten hat. Die KI-gestützten “Serious Games” der Tovertafel beispielsweise animieren zur Interaktion untereinander und mit den Pflegekräften. Dabei orientiert sich die Aktivierung der Pflegebedürftigen durch die Nähe der Spiele zu realen Begebenheiten wie dem Ankleiden oder der täglichen Körperpflege. Solche Dinge helfen, Fähigkeiten zu erhalten oder individuell weiterzuentwickeln. 

Die digitale Pflege umfasst darüber hinaus bereits eine Vielzahl von Tools und Technologien, die in die Pflegeprozesse integriert werden können, um diesen zu verbessern und zu vereinfachen. Ein Beispiel sind digitale Pflegedokumentationssysteme, die es ermöglichen, Patientendaten elektronisch zu erfassen und zu speichern. Dies kann die Dokumentation und Überwachung von Behandlungen und Medikationen erleichtern und Fehler reduzieren. Weitere Beispiele für digitale Pflege sind tragbare Geräte wie Smartwatches oder Armbänder, die Patienten bei der Überwachung ihrer Gesundheitsdaten unterstützen, oder digitale Angebote wie Online-Therapien oder Online-Bildungsprogramme für Patienten. Auch die Verwendung von virtuellen oder erweiterten Realitäten in der Pflege kann Patient:innen helfen, ihre Umgebung zu erkunden oder an sozialen Aktivitäten teilzunehmen.

Digitale Tools nutzen

Ein weiterer, wichtiger Aspekt der digitalen Pflege ist die Interaktion zwischen Pflegepersonal und Patient:innen. Das kann dabei helfen, Angst und Depressionen zu reduzieren und dazu beitragen, dass sich die Patient:innen sicherer und unabhängiger fühlen. Auch die Zusammenarbeit von Pflegekräften untereinander kann durch die Verwendung von digitalen Tools vereinfacht werden. Ein großer Vorteil der digitalen Pflege ist die Zeitersparnis für das Personal, aufwendige Dokumentationen handschriftlich anzulegen oder Übergaben zu schreiben. Hinzu kommt die Steigerung der Patientensicherheit, die Erhöhung der Effizienz und die Möglichkeit, Patient:innen auch außerhalb der traditionellen Pflegeeinrichtungen zu versorgen. 

Deutschland 2023: Wir müssen jetzt die Chancen der Digitalisierung in der Pflege nutzen und einsetzen, um die Pflegekräfte schnell zu entlasten und ihre Situation zu verbessern. Wir brauchen ‘mutige Macher’ und ‘digitale Avantgardisten’ der Pflege ebenso wie niedrigschwellige Behörden und kurzfristige politische Entscheidungen, um unsere sehr guten Pflegekräfte zu entlasten und ihnen das zurückzugeben, was derzeit überall fehlt: Zeit und Anerkennung für ihren Beruf!

Die studierte Ingenieurin Hester Anderiesen Le Riche ist Gründerin und CEO des Unternehmens Tover und Entwicklerin eines kognitiven Stimulationssystems – der Tovertafel.

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