Der demografische Wandel wird in den kommenden Jahren die Herausforderungen in der Pflege verschärfen. Immer weniger Pflegekräfte und Angehörige müssen sich um immer mehr pflegebedürftige Menschen kümmern. Bereits heute sind über vier Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig, bis 2060 werden es zwischen sechs und acht Millionen sein. Gleichzeitig schrumpft die Bevölkerung, Familienverbände lösen sich auf und die Anzahl der Alleinlebenden steigt.
Die Hoffnung ist groß, dass der technologische Fortschritt hilft, diesen Pflegebedarf zu bewältigen. So sollen uns beispielsweise humanoide Pflegeroboter, wenn wir selbst alt oder pflegebedürftig sind, Wasser reichen, an die Tabletteneinnahme erinnern oder sogar Brettspiele mit uns spielen. Eine wirkliche Lösung für die Herausforderungen der Pflege sind sie aber nicht. Erstens sind sie für den flächendeckenden Einsatz schlicht zu teuer. Zweitens werden virtuelle Assistenten, Roboterhaustiere oder Serviceroboter das menschliche Bedürfnis nach Zuwendung nicht ersetzen können. Wie Studien zeigen, sehen Pflegebedürftige den Einsatz von Robotern desto kritischer je menschlicher diese Helfer erscheinen.
Die Roboter stehen jedoch stellvertretend für ein großes technologisches Potenzial, das Pflegenden mehr Zeit für menschliche Interaktion verschaffen sowie Pflegebedürftige zu Hause unterstützen kann. Um dieses Potenzial zu realisieren, bedarf es technischer Lösungen, die skalierbar, finanzierbar und bedarfsgerecht sind sowie von den Menschen akzeptiert werden. Welche technologischen Ansätze dies sein könnten, habe ich in einem Whitepaper (Anm.d.Red. im Auftrag des Unternehmens Livy Care) untersucht.
Soziale, digitale Pflegenetzwerke
Eine wesentliche Erkenntnis des Whitepapers ist, dass soziale digitale Netzwerke, die lokal agieren und sich aus formellen Pflegeprofis und informellen Helfern wie Familienangehörigen oder Nachbarn zusammensetzen, in der Pflege der Zukunft eine wichtige Rolle spielen können. Idealerweise werden die Netzwerkakteure zusätzlich von Alterstechnologie unterstützt, die zum Beispiel signalisiert, wann menschliche und/oder professionelle Hilfe gebraucht wird. Die Kombination aus einem sozialen Pflegenetzwerk und sinnvoll eingebundener Technologie kann dazu beitragen, Pflegebedarf zu erfüllen, soziale Isolation zu verringern sowie den Zugang zu Ressourcen und Dienstleistungen zu verbessern, die sonst möglicherweise nicht verfügbar wären. Neben Nachbarschaft und Servicedienstleistern könnten auch ältere Menschen, die selbst nicht pflegebedürftig sind, aber einfache soziale und kommunikative Aufgaben ehrenamtlich übernehmen möchten, aktiv eingebunden werden. Hierfür bedarf es einer guten digitalen Infrastruktur sowie staatlicher Förderung bei der Umsetzung.
Um im Alter gut zurechtzukommen, sollte die Wohnumgebung, in der man lebt, frühzeitig barrierefrei gestaltet werden. Auch dies muss finanzierbar sein, staatliche Aufklärung und finanzielle Förderung sind hier dringend erforderlich. So werden „mitalternde" Wohnkonzepte, Wohnen auf Zeit für verschiedene Lebensphasen, Do-it-yourself-Lösungen und moderne Quartiersansätze an Bedeutung gewinnen. Möbelhersteller, Baumärkte und Tech-Firmen, die kostengünstige Lösungen zur altersgerechten Gestaltung der Wohnung bieten, werden dabei künftig eine wichtige Rolle spielen.
Eine weitere, damit eng verbundene Entwicklung ist das Active Assisted Living. Damit sind situationsspezifische Assistenzfunktionen gemeint, die zum Beispiel in smarte Möbelstücke integriert werden und mithilfe von Sensoren und Datenintelligenz eine automatische Assistenzfunktion auslösen. Die Kombination von Sensoren, smarten Möbeln und Daten ermöglicht eine kontextuelle Automatisierung unterstützender Funktionen, beispielsweise eine automatisierte Aufstehhilfe, die mittels eines Sensors im Bett erfasst, wenn jemand aufstehen möchte.
Des Weiteren können Monitoringsysteme im Wohnbereich sinnvoll unterstützen. So können Sensoren erfassen, ob jemand hingefallen ist. Idealerweise wird dadurch automatisch ein Notruf aktiviert. Auch präventive Ansätze sind relevant, um beispielsweise Sturzverletzungen zu verhindern. Der Airbag ist hier ein gutes Beispiel gelungener Cross-Innovation, das zeigt, wie die Pflege von bereits weiterentwickelten anderen Branchen lernen kann. Die Nutzerzentrierung und Einbeziehung von Nutzern in Produktentwicklungsprozesse sind weitere wichtige Themen, die in anderen Branchen bereits fest etabliert sind. Denn bei der Entwicklung von Alterstechnologien ist es zentral, den Bedarf von Pflegenden und Gepflegten zu kennen und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, die tatsächlich akzeptiert und genutzt werden.
Digitale Kompetenz und Akzeptanz
Die Arbeit in der Pflege ist herausfordernd. Umso wichtiger ist die digitale Aus- und Weiterbildung der Pflegekräfte. Kompetenzen in der Nutzung entlastender Technologien sowie Anwendungen zur Partizipation der Entwicklung neuer Lösungen sind dabei zentral. Gute Startpunkte wären die Einbindung digitaler Lösungen wie Sprach-Interfaces zur Dokumentation, Planungstools und robotische Systeme, die physisch entlasten und den Arbeitsablauf verbessern, sowie die Einbindung der Akteure in die Innovations- und Produktentwicklung.
Und wer will eigentlich mit all den digitalen und automatischen Lösungen leben? Pflegende und Gepflegte sollten aktiv am Diskurs zur Entwicklung ethischer Leitlinien zum Einsatz von Alterstechnologien beteiligt werden, vor allem im Hinblick auf den Datenschutz. Zudem sollte die aktive Entscheidungsmöglichkeit bestehen, mit einer Pflegeverfügung festzulegen, wie und mit welchen Technologien man altern möchte. Die Politik ist an dieser Stelle gefragt, die Pflege der Zukunft noch viel stärker zum Thema zu machen, Lösungsansätze finanziell zu fördern und den entsprechenden rechtlichen Rahmen zu setzen. Denn die Roboter allein, werden es nicht richten.
Professorin Florina Speth forscht zur Zukunft von Pflegerobotik und Age Tech. Aktuell arbeitet sie an ihrem Buch zur Zukunft der Silver Society und berät Digital Health Unternehmen. Zuletzt lehrte sie an der Leibniz FH Hannover im Bereich Digital Health, verantwortete beim Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) den Bereich Digital Health, arbeitete beim W.I.R.E. ThinkTank in Zürich zur Digitalisierung des Gesundheitswesens und beim 2b AHEAD ThinkTank, wo sie die Langzeitstudie „Die Zukunft deiner Kinder“ leitete.